Spitzenpolitiker der Union plädieren dafür, der Rechtspartei den Vorsitz in Fachausschüssen des Bundestags zuzugestehen. Seitens der Sozialdemokraten hagelt es Kritik.
In der Union mehren sich die Stimmen, die dafür plädieren, im Bundestag anders mit der AfD umzugehen. Führende Konservative fordern, der Rechtspartei künftig keine Vorsitze in den Ausschüssen des deutschen Parlaments zu verweigern.
Johann Wadephul, der als künftiger Aussenminister gehandelt wird, sprach sich am Dienstag dafür aus, AfD-Kandidaten zu wählen, «wenn sie in der Vergangenheit nicht negativ aufgefallen sind». Gitta Connemann, Vorsitzende der Mittelstands- und Wirtschaftsunion, mahnte, durch die Ausgrenzung würden AfD-Abgeordnete in den Rang von Märtyrern erhoben. Auch der sächsische Ministerpräsident Michael Kretschmer unterstützte den Vorstoss. Die demokratischen Rechte für jeden Abgeordneten sollten auch für die AfD gelten, sagte er. Andernfalls mache man die Partei erst recht stark.
Angestossen hatte die Debatte am Wochenende der stellvertretende Vorsitzende der CDU/CSU-Fraktion im Bundestag, Jens Spahn. Die Politik müsse anerkennen, «wie viele Millionen Deutsche die AfD gewählt haben», sagte er der «Bild». Diese Wähler müssten ernst genommen werden. Er empfahl, «mit der AfD als Oppositionspartei so umzugehen in den Verfahren und Abläufen wie mit jeder anderen Oppositionspartei auch».
Das kommt zwar noch keiner offiziellen Kursänderung im Umgang mit der AfD gleich. Zudem gibt es in der Partei auch durchaus kritische Stimmen. Einfach ignorieren lassen sich die Äusserungen aber auch nicht. Sie stammen schliesslich aus der ersten Reihe der Konservativen.
Richtungsstreit in der neuen Koalition
Die Kritik seitens der Sozialdemokraten kam prompt. Die SPD-Vorsitzende Saskia Esken nannte Spahns Äusserungen am Dienstag «sehr, sehr empörend und gefährlich». Auf Anfrage der NZZ teilt die SPD-Bundestagsfraktion mit, die AfD sei keine Partei wie jede andere. Sie versuche, «unsere Institutionen zu untergraben» und werde von vielen Landesverfassungschutzämtern als extremistisch oder als extremistischer Verdachtsfall geführt. «Dieser Extremismus stösst auf unseren entschiedenen Widerstand.»
Die Sozialdemokraten können sich ausserdem auf den Koalitionsvertrag berufen. Darin haben Union und SPD vereinbart, im Bundestag «und in allen von ihm beschickten Gremien» einheitlich abzustimmen. Auch die AfD wird indirekt erwähnt. Die Koalitionspartner schliessen «auf allen politischen Ebenen jede Zusammenarbeit mit verfassungsfeindlichen, demokratiefeindlichen und rechtsextremen Parteien aus». Ein eigenmächtiges Ausscheren seitens der Union dürfte die SPD als Bruch des Koalitionsvertrags sehen.
Vorsitzwahl nach einer mathematischen Formel
Die Ausschüsse erfüllen im deutschen Parlament eine wichtige Funktion. In der Geschäftsordnung werden sie als «vorbereitende Beschlussorgane des Bundestages» bezeichnet. Die Vertreter der Parteien einigen sich dort etwa auf die Formulierung der Gesetzesvorhaben, über die anschliessend im Plenum abgestimmt wird.
Jeder Ausschuss hat einen Vorsitzenden. Dieser beruft die Sitzungen ein und legt die Tagesordnung fest. Er soll eine unparteiische Rolle einnehmen und muss bei strittigen Punkten in der Lage sein, Kompromisse zwischen den Mitgliedern zu verhandeln.
Welche Partei welchen Ausschussvorsitzenden stellt, handeln die Fraktionen gemäss der Geschäftsordnung des Bundestags untereinander aus. Können sich die Fraktionen nicht einigen – wie nach der letzten Wahl, aber etwa auch 2009 vor der zweiten Amtszeit Angela Merkels –, wird das so genannte Zugriffsverfahren angewendet. Anhand einer mathematischen Formel wird dann ermittelt, in welcher Reihenfolge die Fraktionen ihre Wunschausschüsse auswählen. In den vergangenen Jahren ist dieses Verfahren zur Regel geworden.
Zunächst ist die grösste Oppositionsfraktion am Zug. Danach folgt die grösste Regierungsfraktion. Anschliessend greifen abwechselnd die Fraktionen der Opposition und der Regierung zu. Die Reihenfolge orientiert sich an ihrer Grösse.
Ein früherer AfD-Vorsitzender wurde abgewählt
In der Regel sichert sich die grösste Oppositionspartei mit ihrem ersten Zug den Haushaltsausschuss. Wer über die Verteilung des Geldes mitbestimmt, gewinnt an politischer Macht, lautet der Gedanke dahinter. Die AfD hat bereits Interesse an dem Posten bekundet. Vorsitzende möchte Ulrike Schielke-Ziesing werden, wie das Portal «Politico» berichtet. Insgesamt schweben der Rechtspartei fünf Vorsitze vor.
Dafür gibt es durchaus Präzedenzfälle, zum Beispiel in einigen Landesparlamenten. Im hessischen Landtag hat die AfD etwa den Vorsitz im Haushaltausschuss und im Europaaauschuss inne. Im sächsischen Landtag wurde kürzlich ein AfD-Politiker in die Parlamentarische Kontrollkommission gewählt, welche die Geheimdienste kontrolliert.
Auch im Bundestag wäre ein Ausschussvorsitzender der AfD nichts Neues. 2018 wurde der AfD-Politiker Stephan Brandner zum Vorsitzenden des Rechtsausschusses gewählt. 19 Ausschussmitglieder stimmten damals für ihn, zwölf gegen ihn und zwölf weitere enthielten sich.
Allerdings hielt sich Brandner nicht lange auf diesem Posten. In einem bis dato einmaligen Vorgang wählten ihn die Ausschussmitglieder knapp zwei Jahre später wieder ab. Brandner stand zuvor für mehrere kontroverse Äusserungen in der Kritik. Er hatte etwa die Verleihung des Bundesverdienstkreuzes an den Sänger Udo Lindenberg als «Judaslohn» bezeichnet. Lindenberg hatte sich zuvor kritisch über die AfD geäussert.
Nach dem Vorfall haben die anderen Parteien den AfD-Kandidaten in der vergangenen Legislaturperiode die Zustimmung versagt. Die Rechtspartei hatte daher im alten Bundestag keinen Ausschussvorsitz mehr inne. Dagegen versuchte sie, rechtlich vorzugehen. Das Bundesverfassungsgericht kam jedoch zu dem Urteil, dass es keinen Anspruch auf Ausschussvorsitze gebe.
Die neuerliche Debatte kommt für Union und SPD zur Unzeit. Die Koalitionäre haben damit noch vor der Kanzlerwahl einen weiteren grundlegenden Richtungsstreit – zusätzlich zu dem über den Mindestlohn oder die Lieferung von Taurus-Marschflugkörpern an die Ukraine.