Der Neurobiologe Robert Sapolsky hat 2017 einen bahnbrechenden, tausendseitigen Wälzer geschrieben. Es sei ihm verziehen. Denn es geht um die komplizierteste Sache der Welt: menschliches Verhalten.
Selbst Wissenschafter haben Gefühle, und auch ihnen geht es nicht immer allein um Wissensvermittlung. Den Neurobiologen Robert Sapolsky jedenfalls haben persönliche Motive zu seinem Buch angetrieben. Schon immer sei er extrem pessimistisch gewesen, und als er Kinder bekommen habe, habe er das ändern wollen.
Also machte Sapolsky sich auf die Suche nach all den Faktoren, die menschliches Verhalten beeinflussen. Und siehe da: «Meinem pessimistischen Ich ist es schwergefallen, das zuzugeben, aber es besteht tatsächlich Anlass zum Optimismus», schreibt er. Gewalt sei eben nicht unvermeidbar.
Um zu dieser Erkenntnis zu kommen, scheinen tausend Seiten viel, doch es sei versichert: Es lohnt sich. So gut wie jeder wird nach dem Lesen klüger sein und ausserdem seinen Fundus an Party-Talk-tauglichen Details über das absurde Tier Mensch erweitert haben.
Was uns beeinflusst
Wussten Sie zum Beispiel, dass man vorhersagen kann, ob sich Uno-Diplomaten im Verkehr von Manhattan viele Strafzettel einhandeln? Die Anzahl der Strafzettel bemisst sich am Korruptionsindex des Herkunftslandes des Diplomaten. Mit diesem Beispiel will Sapolsky den Einfluss der Kultur auf menschliches Verhalten aufzeigen.
Das Buch ist unterhaltsam, der Stanford-Professor Sapolsky hat Humor und einen Zugang zu Menschen und ihrem Leben. Doch vor allem zeichnet sich das Buch durch eines aus: Sapolsky kämpft gegen Vereinfachung, Gleichmacherei und gegen die alte Gegenüberstellung «nature vs. nurture», also die Frage, ob der Mensch vor allem durch seine Gene und seine Biologie bestimmt sei oder durch seine Umwelt und seine Erziehung.
Sapolsky macht sich die Mühe, genau durchzugehen, welche Faktoren wichtige Rollen spielen und dabei miteinander verwoben und nicht zu trennen sind: Gene, Hormone, die Neurobiologie unseres Gehirns, aber auch die Umwelt, unsere Entwicklung, das soziale Umfeld und die Kultur beeinflussen unser Denken, Fühlen und Handeln. «Am Ende dieses Buches werden Sie erkennen, dass es sinnlos ist, zwischen Aspekten zu unterscheiden, die biologisch sind, und solchen, die man als psychologisch oder kulturell bezeichnen würde», schreibt er. «Alle diese Dinge sind unauflöslich miteinander verknüpft.»
Sapolsky stellt ausserdem klar: Es zählt immer der Kontext. Zum Beispiel erhöht das Hormon Testosteron nicht unbedingt die Neigung zu Aggression, wie häufig behauptet wird. Es erhöht allerdings die Neigung zu Dominanzverhalten, das wiederum je nach Kontext unterschiedlich bewertet wird. Reissen sich Footballspieler im Kampf um den Ball gegenseitig zu Boden, finden wir das gut. Prügeln sie sich hingegen nach dem Spiel blutig, verurteilen wir das.
Um all die verschiedenen Ebenen durchzugehen, bedient sich Sapolsky eines fast kriminalistischen Tricks: Er geht von einer fiktiven Gewalttat aus und dreht dabei die Zeit vor der Tat zurück. Welche Hormone beeinflussten den Täter? Warum war er empfänglich für bestimmte Sinneseindrücke? Wie prägten ihn seine Erziehung und die soziale Schicht, der er angehörte? Wie verlief womöglich die Schwangerschaft seiner Mutter, und welche Gene prägen ihn? Und Sapolsky geht noch Jahrtausende weiter: Selbst den Faktor unserer Evolution untersucht er. Kein Wunder, dass er dafür Hunderte Seiten braucht.
Dass es keine einfachen Antworten gibt, zeigt Sapolsky besonders beeindruckend an einer Tatsache. Mitgefühl haben wir mit Menschen, die uns angehören. Egal, wie gebildet und vermeintlich aufgeklärt wir sind, wir stecken Menschen fortwährend und unbewusst in die Schubladen «wir» und «die anderen». Eine Erklärung, warum das so ist, liefert Sapolsky gleich mit und noch viel besser: Vorschläge, wie sich diese Reflexe abmildern lassen.
Bindung vor Status
Denn das Buch hat tatsächlich eine optimistische Botschaft: Wir haben zwar alle eine biologische Grundausstattung. Doch wir können uns durch andere Umstände und Erfahrungen verändern. Indem wir uns intellektuell hinterfragen und reflektieren, können wir Veränderungsprozesse noch verstärken.
Den besten Beweis liefert dafür ausgerechnet der Pavian. Sapolsky ist auch Primatenforscher und hält Paviane für phantastische Modelle des modernen westlichen Menschen. Diese lebten nämlich auch in relativ sicheren Zusammenhängen ohne Hungersnöte und hätten deshalb viel Zeit für psychosozialen Stress und sinnloses Ranggeprotze – genau wie wir.
Und welche Paviane haben das stressfreiste Leben? Nicht etwa die ranghohen Alphamännchen mit den grössten sozialen Einflussmöglichkeiten. Sondern vor allem diejenigen Paviane, die am besten sozial integriert sind. Bindungen vor Status – eine Lebenseinstellung, an der sich arbeiten lässt.
Robert Sapolsky, Gewalt und Mitgefühl. Die Biologie des menschlichen Verhaltens. Aus dem Englischen von Hainer Kober und Antoinette Gittinger. Hanser-Verlag, München 2017. 1024 S., Fr. 37.90.
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