So ist vor zwei Jahren ein Buch entstanden, das sich hervorragend liest. Es eignet sich selbst für all die, die Moos für das langweiligste Thema der Welt halten. Das gilt aber nur für das englische Original.
Wenn man erzählt, man habe da ein tolles Buch gelesen über Moos, ist die Reaktion immer gleich: ein Lachen, als berichte man über ein völlig abwegiges neues Hobby, Subtext: Na ja, es kann ja jeder mit seiner Zeit anfangen, was er will – aber was bitte soll an Moos schon interessant sein?
Man müsste nur die ersten Absätze lesen, um die Unsinnigkeit dieser Frage zu erkennen. Die amerikanische Biologin Robin Wall Kimmerer macht Moos interessant.
Sie beginnt jedes der 19 unabhängigen Kapitel mit einer Szene, die man sich sofort vorstellen kann, überhöht sie in einer Verallgemeinerung, zieht Parallelen zu einem Aspekt im Leben von Moosen, verwebt die Vermittlung wissenschaftlicher Fakten über diese Pflanzengruppe mit ihrem eigenen Leben und dem menschlichen Dasein generell.
Etwa: Ihre Nachbarin hält Kühe, die, damit sie Milch geben, künstlich befruchtet werden – Moose können sich sexuell fortpflanzen oder klonen. Oder: Ihre Nichte brüllt, weil sie endlich gross sein will – das Moos hat im Kleinsein eine ökologische Nische gefunden, die seit 450 Millionen Jahren sein Überleben sichert.
Kimmerer erzählt davon in einer Sprache, die keine Angst vor dem Empfinden hat. Kämen ihre Sätze aus der Feder einer westeuropäischen Biologin, würde man sie vermutlich als esoterisch abtun.
Aber Robin Wall Kimmerer ist Angehörige der Potawatomi, einer indigenen Bevölkerungsgruppe, und auch deren «ways of knowing» verpflichtet. Es gelingt ihr, die scheinbar unmögliche Brücke zu schlagen zwischen harten wissenschaftlichen Fakten und dem Geist und den Emotionen, die in der indigenen Sicht wichtig sind. Sie ist erfüllt von der Natur und vom Staunen über sie, und man staunt mit ihr.
All das, das muss gesagt werden, bezieht sich auf das englische Original. Die Übersetzung ins Deutsche tut dem leider kaum Genüge.
Besonders ärgerlich sind die Mängel in einem berührenden Kapitel über die Akzeptanz der Veränderung als unabwendbarer Konstante menschlichen Seins. Denn die Szene, in der Kimmerer ihr Hadern mit dem Lauf des Lebens beschreibt, spielt an einem Flughafenschalter, auf dem eine Spardose steht. Im Englischen bezeichnet das Wort «change» sowohl Veränderung und Wandel als auch Restgeld.
Deshalb ist es im Englischen ein plausibles Wortspiel, auf einen Trinkgeldbehälter zu schreiben: «If you fear change, leave it here», und Kimmerer kann im nächsten Satz von ihrem «load of change» schreiben und damit zugleich die vielen Münzen in ihren Taschen als auch all die Veränderungen in ihrem Leben meinen, die sie bedrücken. Das Schild auf der Spardose zu übersetzen mit «Wenn Sie Angst vor dem Wechsel haben, dann immer her damit» und dann von der «ganzen Last an Kleingeld» zu sprechen, kann das nicht ansatzweise vermitteln.
In einer anderen Szene beschreibt Kimmerer, wie sich am offenen Grab des Grossvaters alle an den Händen halten, auch die Tochter. «When the roses slip from her hands, we hold each other’s tighter», wir halten uns noch fester an den Händen. In der Übersetzung aber heisst es: «Als ihr die Rosen aus der Hand gleiten, umfassen wir die unseren nur fester.» Doch es ist etwas völlig anderes, ob man ein dorniges Bündel toter Blumen umklammert oder die Hand eines Menschen, den man liebt.
Wenn man also das tolle Buch über Moos empfehlen möchte, muss man mindestens ergänzen: «Aber lesen Sie das englische Original.»
Robin Wall Kimmerer, Das Sammeln von Moos. Eine Geschichte von Natur und Kultur. Aus dem Amerikanischen von Dieter Fuchs. Reihe Naturkunden, Verlag Matthes & Seitz, Berlin 2023, 293 S., Fr. 24.90.