Als Erste hat die Historikerin Ariane Knüsel den Handel mit Embargowaren aus der Schweiz erforscht. Er ermöglichte China die Entwicklung der Atombombe.
Die Schweiz spielte bei der Entwicklung der chinesischen Atombombe eine zentrale Rolle. Wie kam es dazu?
China benutzte die Schweiz ab 1950 als Zentrum für seine wirtschaftlichen und politischen Beziehungen in Europa. Streckenweise war die chinesische Botschaft die zweitgrösste in der Schweiz, gleich hinter jener der USA. Die Schweiz war als Produzentin von Kriegsmaterial und sogenannten Dual-Use-Gütern, also Waren, die auch für die Produktion von Waffen eingesetzt werden können, für China höchst interessant. Als die meisten westlichen Länder wegen des Koreakriegs gegen China Sanktionen einführten, schränkte die Schweiz ihren Handel mit Peking nur begrenzt ein. China nützte das aus und begann, systematisch von Bern aus den Kauf von Embargowaren zu organisieren.
Welche Abwehrmassnahmen ergriffen die Schweizer Behörden gegen die chinesische Botschaft in Bern, wo die Fäden zusammenliefen?
Ganz wichtig war die internationale Zusammenarbeit mit westlichen Geheimdiensten. Da die Embargowaren oft über mehrere europäische Länder transportiert wurden, bevor sie nach China gelangten, waren meistens Personen in mehreren Ländern beteiligt. In der Schweiz versuchte die Bundespolizei, alle Personen, die mit den chinesischen Diplomaten in Bern und Genf in Kontakt waren, zu identifizieren. Sie wurden registriert, und lokale Polizeikorps mussten über die einzelnen Personen Nachforschungen betreiben. Wenn Embargowaren-Händler identifiziert wurden, hat man sie überwacht, verhört und in einzelnen Fällen des Landes verwiesen.
Trotz einem Berg von Akten, den der damalige Geheimdienst produzierte, hatten die Atomschmuggler in der Schweiz wenig zu befürchten.
Die Bundespolizei war heillos überfordert. Jahrelang waren zwei Inspektoren dafür zuständig, alle verdächtigen Aktionen der Chinesen in der Schweiz zu überwachen. Personell war man gar nicht in der Lage, systematisch die Botschaft zu observieren und alle verdächtigen Fälle zu überprüfen. Nicht einmal alle Telefongespräche der chinesischen Botschaft in Bern und des Konsulats in Genf konnte man konstant abhören und auswerten, weil nicht genug Geld für einen Übersetzer vorhanden war. Es gab aber auch administrative Probleme: Wenn die Inspektoren potenzielle Embargobrecher identifiziert hatten, mussten kantonale Polizeistellen diese überwachen. Sobald die Verdächtigen die Kantonsgrenze überschritten, übernahm in der Regel eine andere Kapo.
Trotz Kaltem Krieg behandelte der Bundesrat das kommunistische China auffallend pfleglich. Wie kam das?
Man wollte mit guten Beziehungen zur Volksrepublik China auch das Image der Schweiz als neutraler Vermittler im Kalten Krieg festigen. Das hatte nichts mit Sympathie für Kommunisten zu tun, sondern mit Pragmatismus. Auch war es so, dass Massnahmen gegen chinesische Diplomaten in der Schweiz postwendend Massnahmen gegen Schweizer Diplomaten und Firmen in China zur Folge gehabt hätten, so wie das heute noch der Fall ist. Nicht zuletzt war es auch ein erklärtes Ziel des Bundesrates, die wirtschaftlichen Beziehungen mit China zu stärken. Grosse Sympathien gab es allerdings nicht, denn Bundesbern war dezidiert antikommunistisch.
Wie gross war auf der anderen Seite der Druck aus den USA, gegen die Embargobrecher in der Schweiz vorzugehen?
Die USA waren der wichtigste Handelspartner der Schweiz. Wichtig war auch, dass die Bundespolizei mit der CIA zusammenarbeitete. Deshalb waren die meisten Schweizer Unternehmen vorsichtig beim Handel mit China, besonders wenn sie auch mit den USA Handelsbeziehungen hatten. Mit Amerika wollte man es sich nicht verscherzen. Das ging so weit, dass beispielsweise der Technologiekonzern BBC nach Bern meldete, dass man froh wäre, keine Bewilligung für eine Sendung von Dual-Use-Gütern nach China zu erhalten – weil man befürchtete, dass die USA davon erfahren würden und es Konsequenzen für das Unternehmen hätte.
Wann wurde klar, dass der Atomschmuggel nach China über die Schweiz lief?
Bereits Mitte der 1950er Jahre wurde vermutet, dass einzelne Personen, die mit der chinesischen Botschaft in Bern in Kontakt waren, für China Handel mit Embargowaren betrieben. Bis in die 1960er Jahre wurde die Bundespolizei aber nur sehr selten gegen solche Personen aktiv. Chinesische Spionage und Propagandatätigkeit war für den Schweizer Nachrichtendienst das wichtigere Problem. Britische und amerikanische Geheimdienste waren sich aber schon bald einig, dass die Schweiz ein Handelszentrum für Embargowaren für China darstellte.
Wie gestaltete sich Ihre Forschungsarbeit? Hatten Sie in den Archiven freien Zugang, oder standen wichtige Dossiers noch unter Schutzfrist?
Da vor mir noch nie jemand über dieses Thema geforscht hatte, war die Arbeit wie ein riesiges Puzzle, für das ich aus den unterschiedlichsten Quellen Informationen zusammensuchen musste. So habe ich Zehntausende von Dokumenten in verschiedenen westlichen und chinesischen Archiven gelesen, die meisten davon im Bundesarchiv in Bern. Viele davon standen unter Schutzfrist. Ich habe aber eine Spezialbewilligung bekommen, die mit bestimmten Auflagen verbunden war. Ich habe mich auch mit Forschern in China und im Westen ausgetauscht. Für die Chinesen ist weder der Embargowaren-Handel noch die damalige Spionage ein historiografisches Tabu, weshalb ich auch chinesische Biografien und andere Publikationen über wichtige Personen aus Politik und Nachrichtendienst konsultiert habe. Manchmal fand ich nur zwei oder drei Sätze in einem Buch, aber diese konnten es in sich haben und für mich wieder ein weiteres Puzzlestück darstellen.
Wieso lag das Forschungsgebiet so lange brach?
Es ist ein ungeheuer aufwendiges Forschungsgebiet. Es ist zu komplex für eine Masterarbeit, und wir haben in der Schweiz zu wenige Historikerinnen und Historiker, die über die chinesische Geschichte doktorieren, geschweige denn habilitieren. Man kommt nicht umhin, Zehntausende von Dokumenten systematisch zu untersuchen, zu analysieren, auszuwerten und zu interpretieren. Die Netzwerke der Händler sind extrem verstrickt und erstrecken sich oft über mehrere Länder. Schliesslich sollte man auch Chinesisch verstehen, da verschiedene hilfreiche Quellen nur auf Chinesisch erhältlich sind.
Wie gross ist derzeit die Gefahr von technologischer Spionage aus China?
Die Gefahr ist sicherlich gross, denn China hat ganz klare Ziele im Hightech-Bereich, für den es auf Informationen – Forschung, Technologien, Know-how – aus dem Ausland angewiesen ist. Dabei geht China auf unterschiedliche Art und Weise vor – zum einen werden gezielt Leute in relevante Forschungsprojekte eingeschleust, aber es werden auch Wissenschafter kontaktiert, die mit relevanten Technologien arbeiten, und nicht zuletzt versucht China, auf legalem Weg, also beispielsweise durch Investitionen, an das benötigte Wissen oder die Technologie zu kommen. Das Problem betrifft aber nicht nur die Schweiz, sondern alle westlichen Staaten.
Interview: Marcel Gyr.