Angst präge das Lebensgefühl vieler Menschen, sagt Abt Urban von Einsiedeln. In solchen Zeiten könne das Kloster Orientierung bieten. Die Kirche dürfe aber nicht dem gesellschaftlichen Mainstream nachrennen. Es wäre leichtsinnig, wegen der Diversitätsdebatte etwas Wertvolles wie das Sakrament der Ehe wegzuwerfen.
Abt Urban, Ostern ist für viele Menschen in der Schweiz nur noch ein Familienfest mit Schokohasen, der religiöse Bezug tritt immer mehr in den Hintergrund. Schmerzt Sie das?
Heute mögen in der Schweiz weniger Menschen als früher genau wissen, was an diesem Fest gefeiert wird. Doch das heisst noch lange nicht, dass Ostern früher einfacher zu verstehen war. Vielleicht hatten Osterhase und Osterei auch gerade deshalb leichtes Spiel, weil die eigentliche Oster-Hoffnung nicht konkret darstellbar ist.
Was ist denn die eigentliche Oster-Hoffnung?
Dass das Leben stärker ist als der Tod, dass Hoffnung die Dunkelheit durchbricht. Diese Botschaft ist nicht veraltet – sie ist zeitlos. Und sie ist nötig. Denn wir leben in einer Zeit, in der oft von grossen globalen Bedrohungen die Rede ist, sei es in politischen, gesellschaftlichen oder ökologischen Zusammenhängen. Angst prägt das Lebensgefühl vieler Menschen.
Helfen die Krisen, die wir derzeit erleben, auch der Kirche, weil die Leute wieder mehr nach Sinn suchen?
Es gibt den Spruch: Not lehrt Beten. Aber so einfach ist es nicht. Die Leute kommen nicht wieder häufiger in die Kirche deswegen.
Aber die Menschen haben nach wie vor ein Bedürfnis nach Religion.
Sehr viele Menschen haben eine Sehnsucht nach dem Transzendenten, das sieht man auch am Boom von Pilgerreisen. Was abnimmt, ist die Bindung an eine konkrete Institution. Damit schwindet auch das Wissen über die Religion. Aber das ist nicht nur schlecht. Ich gebe das Ergänzungsfach Religion für Maturanden. Da spüre ich eine grosse Offenheit, auch aus einer gewissen Unwissenheit heraus. Man kann da wörtlich bei Adam und Eva anfangen. Ich sehe das auch in den Gottesdiensten. Die sind oft voll bis auf den letzten Platz, aber die Leute kennen die Liturgie immer weniger.
Und doch glauben immer weniger Menschen an die Existenz Gottes.
Deshalb sollten wir an Ostern auch nicht nur abstrakt von der Hoffnung reden, sondern die Leute spüren lassen, dass wir von dieser Hoffnung getragen werden. Wir im Westen befinden uns in einem kollektiven Burnout. Da könnten gewisse Techniken aus dem Kloster helfen. Etwa die Rhythmisierung des Lebens, die Stille. Ohne Stille gibt es keine Visionen, und ohne Visionen können wir die Gesellschaft nicht voranbringen.
Das allein wird die Kirche in der Schweiz nicht retten. Was muss sie tun, um eine Zukunft zu haben?
Wir sind zu lange um uns selbst gekreist. Die Kirche muss für die Menschen da sein, sie ist kein Selbstzweck. Wir können weder zurück zu der Kirche, wie sie vor 200 Jahren war, noch sollten wir alles dem gesellschaftlichen Mainstream nachbeten. Wir dürfen mit unseren Positionen auch mal anecken. Aber wir müssen eine Sprache finden, die der moderne Mensch versteht.
Das wird kaum gelingen, solange die Kirche Homosexualität, Abtreibung und Sex vor der Ehe als Sünde bezeichnet.
Es wird so wahrgenommen, dass die Kirche all dies verdammt, das stimmt. Aber das entspricht nicht unbedingt der Realität. Schon in meiner Jugend im katholischen Milieu im Zürich der sechziger und siebziger Jahre habe ich von einer solch restriktiven Haltung kaum etwas mitbekommen.
Sind das nicht die offiziellen Dogmen der Kirche?
Es sind Leitplanken, die auf 2000 Jahren Erfahrung aufbauen. Papst Franziskus sagt zu Recht, dass Menschen in jeder Lebenslage und Lebensbeziehung wertvoll und einzigartig seien und wir ihnen mit Liebe und Achtung begegnen sollten. Dennoch wäre es leichtsinnig, wegen der heutigen Diversitätsdebatte etwas Wertvolles wie das Sakrament der Ehe einfach wegzuwerfen. Der Bund zwischen Gott, Frau und Mann schliesst auch die Weitergabe des Lebens mit ein.
Ihr Vorgänger Martin Werlen hat sich dafür ausgesprochen, dass Frauen Priesterinnen werden dürfen. Sind Sie gleicher Meinung?
Franziskus will mit seinem synodalen Prozess einen Weg beginnen, auf dem die Gesamtkirche solche Fragen beantworten kann. Es ist nicht denkbar, dass wir in Europa in einer so zentralen Frage etwas anderes machen als die Katholiken in Afrika oder Asien.
Das tönt, als wollten Sie es sich weder mit den Progressiven noch mit den Konservativen in der Kirche verscherzen.
Ich will als Abt mit allen reden können, unabhängig von ihren kirchenpolitischen Einstellungen. Es gibt leider auch in der Kirche ein Blockdenken, das wir überwinden sollten. Meine Mitschwestern im Kloster Fahr, wo ich auch Abt bin, und die Frauen in den Gremien, für die ich arbeite, spüren, wie wichtig mir ein gleichberechtigtes Miteinander ist. Ich hoffe allerdings, dass die Frage der Priesterinnenweihe unwichtiger wird.
Inwiefern?
Ich möchte wegkommen von der Priesterzentriertheit. Die Messe ist oft noch eine One-Man-Show: Der Priester predigt, er führt durch die Eucharistie, er singt auch vor. In einer Gemeinde müsste eine Führung jedoch die vom Heiligen Geist verliehenen Begabungen aller Leute entdecken und schauen, wie sie sich einbringen können. Das können Frauen bestimmt nicht schlechter als Männer.
Wenn der Priester nicht mehr auf einem Podest stünde: Würde dies das Risiko mindern, dass es zu weiteren Missbrauchsfällen kommt?
Das starke Machtgefälle früher war einer der Gründe dafür, dass sexuelle Übergriffe stattfinden konnten. Niemand getraute sich, einer Autorität wie dem Priester zu widersprechen. Doch heute sind wir an einem ganz anderen Punkt, die Kirche in der Schweiz hat die Lehren aus den schmerzhaften Erfahrungen der letzten Jahre gezogen und viel in die Prävention investiert. Bei uns Benediktinern gibt es in der Ausbildung heute mehrere Module, in denen die angehenden Mönche darüber reflektieren, wie sie mit ihrer eigenen Sexualität umgehen. Und sie setzen sich mit Fragen der Nähe und Distanz auseinander.
Würden Sie die Hand dafür ins Feuer legen, dass nie einer Ihrer 40 Mönche übergriffig würde?
Nein, das kann niemand, das wäre naiv. Aber ich bin sicher: Die Schülerinnen und Schüler von heute würden solche Vorfälle melden. Sie wissen genau, was Missbrauch ist und an wen sie sich wenden sollen – anders als Jugendliche von einst, die gar nicht genau einordnen konnten, was ihnen da widerfuhr.
Sie sind 56 Jahre alt, die Mehrheit der Mönche ist älter als Sie. Wie lange gibt es noch Mönche im Kloster Einsiedeln?
Solange es uns braucht! Solange wir selbst in Christus eine Hoffnung, eine Vision vom Leben haben, ist es für Aussenstehende einfacher, einen Zugang zu uns zu finden. Wenn wir die Botschaft verbreiten, dass das alles sowieso keine Zukunft habe, dann kommt auch niemand mehr. Dabei kann ich mich auch auf die 16 Mönche stützen, die jünger sind als ich. Unsere beiden neuesten Mitbrüder sind im September und im Januar eingetreten. Der eine ist 50, der andere 24.
Was ist Ihr Versprechen? Wer ins Kloster kommt, findet Gott?
Nein. Wir behaupten nicht, dass wir Gott gefunden haben. Auch für uns bleibt Gott ein Geheimnis. Aber wir laden die Menschen ein, Gott mit uns zu suchen.
Gerade für Angehörige der jungen Generationen, die alle drei Jahre ihren Job wechseln, dürfte es ein völlig abwegiger Gedanke sein, sich für ein ganzes Leben im Kloster zu verpflichten.
Unser Gelübde der Stabilitas zieht die Menschen an, stösst sie in der Tat aber gleichzeitig auch ab. Etwas für das ganze Leben zu tun, ist für die meisten unvorstellbar. Zudem sind heute die meisten Familien dagegen, dass ihre Söhne oder Töchter ins Kloster gehen. Und es gibt auch kaum mehr die enorm kinderreichen Familien von einst, bei denen klar war, dass mindestens ein Sohn Mönch wird.
Was stimmt Sie dann optimistisch, dass Ihre Klostergemeinschaft nicht aussterben wird?
Menschen, die auf der Suche sind, gibt es immer. Und sie machen es bewusster als früher. Da gingen die Leute in die Kirche, weil es eben alle so machten. Heute sucht man im Internet. Und manche sind so bei uns gelandet.
Gehen wir dennoch von der Hypothese aus, dass es in Einsiedeln in 50 Jahren keine Mönche mehr gibt. Was passiert dann mit dem Kloster?
Kirchenrechtlich ist eine Klostergemeinschaft 100 Jahre nach dem Tod des letzten Mitbruders noch existent. Wenn also jemand innerhalb dieser Zeit das Klosterleben wiederaufnehmen möchte, könnte er einfach andocken. Aber die ganzen Gebäude müsste der Kanton übernehmen. Das Wichtigste ist jedoch nicht, dass es hier noch Mönche gibt.
Sondern?
Dass das Evangelium eine Stimme in der Gesellschaft hat. Mönche leben für dieses Evangelium.
Sie sind als Abt nicht nur spiritueller Führer, sondern auch Chef eines grossen Unternehmens. Wie wichtig ist der ökonomische Aspekt Ihres Jobs?
Wirtschaftlichkeit und Spiritualität müssen sich ergänzen, das sagte schon unser Ordensgründer Benedikt von Nursia. Das zeigt sich auch in der Klosterarchitektur, im Nebeneinander von Kirche und Wirtschaftsgebäuden. Unser Kloster war auch ökonomisch sehr innovativ. So haben meine Vorfahren das Schweizer Braunvieh gezüchtet, der Inbegriff der hiesigen Kuh.
Das Kloster kommuniziert keine Bilanzzahlen. Weshalb nicht?
Wir sind keine Aktiengesellschaft und erhalten keine Kirchensteuern. Unsere Jahresrechnung beläuft sich auf rund 26 Millionen, so viel können wir sagen. Die Hälfte davon sind Lohnkosten. Ein Drittel unserer Erfolgsrechnung macht die Stiftsschule aus. Sie ist also für uns auch wirtschaftlich wichtig.
Aber zum Vermögen des Klosters stellen Sie keine Transparenz her.
Ich finde diese Transparenzdiskussion manchmal etwas anstrengend, wir wirtschaften hier schliesslich schon seit mehr als tausend Jahren. So reich können wir auf jeden Fall nicht sein: Wir sind auf Spenden angewiesen.
Wie kann das sein? Sie sind immerhin der grösste private Grundbesitzer in der Schweiz.
Der grösste Teil ist Landwirtschaftsland und Wald. Das wirft kein Geld ab, im Wald zahlen wir für den Unterhalt sogar drauf. Einnahmen haben wir mit Bauland, das wir im Baurecht abgegeben haben. Doch das reicht nicht, um den Betrieb des Klosters zu finanzieren.
Stellen Sie bei den Spenden einen Rückgang fest?
Nein, auch wenn es wegen der Pandemie eine Delle gab. Für einen Wallfahrtsort ist es auch finanziell einschneidend, wenn der Staat dekretiert, dass man niemanden mehr hereinlassen darf.
Vom profanen Geld nochmals zum Kirchlichen: Der Papst, den Sie sehr schätzen, ist gesundheitlich angeschlagen. Haben Sie Angst vor einem konservativen Backlash unter dem Nachfolger von Franziskus?
Nein – und die bewahrende Seite der Kirche braucht es auch. Franziskus hat viele Kardinäle selbst eingesetzt, deshalb gehe ich davon aus, dass sie einen Papst wählen werden, der ähnliche Vorstellungen von der Kirche hat. Man darf nicht unterschätzen, wie revolutionär das Pontifikat von Franziskus ist.
Inwiefern?
Endlich übt jemand aus der Peripherie dieses Amt aus. Franziskus kennt die Elendsviertel Lateinamerikas, er hat deshalb logischerweise einen ganz anderen Fokus als jemand wie ich, der auf dem Zürichberg aufgewachsen ist. Im Zentrum steht für ihn zuerst die Frage nach der Überwindung der Armut. Der Weg zur Beantwortung solcher Fragen ist im synodalen Prozess gegeben und ist nicht umkehrbar. Auch geografisch legt er seinen Fokus anders. Das betrifft uns ganz konkret: Alle Päpste der letzten 60 Jahre haben uns in Einsiedeln besucht, vor oder während ihres Pontifikats. Franziskus war nie hier. Und das macht auch gar nichts.
Ihre zwölfjährige Amtszeit läuft im August ab. Bleiben Sie Abt?
Das werden meine Mitbrüder entscheiden. Ich stelle mich nochmals zur Verfügung, aber wir hätten auch andere Mönche, die dieses Amt übernehmen könnten. Da sind wir in einer komfortableren Lage als andere Klöster, die Mühe haben, Führungspositionen zu besetzen. Ich wurde übrigens schon gefragt, ob bei uns nach der Wahl eines neuen Abts auch weisser Rauch aufsteige. Ich sagte: «Wenn Sie Rauch über dem Kloster sehen, rufen Sie bitte die Feuerwehr!»