Sexuelle Belästigung von Medizinstudentinnen und Ärztinnen kommt häufig vor. Das legen Studien und Befragungen nahe. Die konkreten Fallzahlen sind dennoch vergleichsweise gering.
Eine plötzliche Berührung am Arm, eine Hand am Hintern oder sogar erzwungene sexuelle Handlungen: Solche Szenen spielen sich immer wieder in Operationssälen ab, zwischen Chirurgen und Medizinstudentinnen oder Ärztinnen. Oft wagen es die Opfer nicht, ihre Peiniger anzuzeigen – aus Angst, ihre Karriere zu gefährden. Häufig bleiben die Täter deshalb ungestraft.
«Wir gehen davon aus, dass es relativ häufig zu sexueller Belästigung kommt», sagt Philipp Thüler, stellvertretender Geschäftsführer des Verbands Schweizerischer Assistenz- und Oberärztinnen und -ärzte (VSAO). Die Dunkelziffer sei hoch, weil eine «Speak-up-Kultur» fehle. Belastbare Statistiken gibt es bislang nicht. Der VSAO hat ein Gesuch an das Eidgenössische Büro für die Gleichstellung von Frau und Mann (EGB) gerichtet, um künftig solche Daten erheben zu können.
Anfang des Jahres hatte eine Reportage des Westschweizer Fernsehens (RTS) über das Ausmass an sexueller Belästigung in Spitälern der Romandie berichtet. Eine anonymisierte Chirurgin sprach in dem Film über ihre Erlebnisse. Gemäss dem Film wagten es nur wenige Opfer, solche Vorfälle zu melden. Beschwerden bei Meldestellen hätten kaum Folgen gehabt oder seien sogar ignoriert worden, auch wenn offiziell eine Null-Toleranz-Politik in den Spitälern herrscht. Das Universitätsspital Lausanne (CHUV) stand besonders im Fokus des Berichts.
Geringe offizielle Fallzahlen an den Universitätsspitälern
Die NZZ hat alle fünf Universitätsspitäler der Schweiz um Fallzahlen gebeten, sofern diese nicht öffentlich zugänglich waren. Fast alle haben regelmässig solche Vorfälle.
Am Universitätsspital Lausanne wurden nach Angaben eines Sprechers im vergangenen Jahr zehn Abmahnungen und elf fristlose Kündigungen wegen sexueller Belästigung ausgesprochen. Hinzu kamen zehn persönliche Ansprachen. Dieses Jahr wurde bereits eine Person verwarnt, zwei Mitarbeiter hat das Spital entlassen. Vier weitere Disziplinarverfahren laufen noch. Zudem gingen vier namentliche und zwei anonyme Beschwerden über Belästigung ein.
Das Genfer Unispital (HUG) zählte nach eigener Auskunft in den vergangenen beiden Jahren 16 Vorfälle sexueller Belästigung, in der Folge wurden vier Personen verwarnt und sieben entlassen. Am Universitätsspital Bern wurden in den beiden vergangenen Jahren 14 Fälle sexueller Belästigung registriert.
Das Universitätsspital Zürich zählte im Jahr 2023 36 Fälle sexueller Belästigung, der Bericht zu 2024 liegt noch nicht vor. Meldungen von Betroffenen werden nach Angaben eines Sprechers «umgehend untersucht». Die Universität Zürich stand vergangenes Jahr wegen sexueller Belästigung im Fokus der Öffentlichkeit: Die Institution hatte die zuvor geheim gehaltenen Zahlen zu sexueller Belästigung erst auf Grundlage des Öffentlichkeitsprinzips bekanntgegebenen.
Das Universitätsspital Basel hatte in den beiden vergangenen Jahren hingegen keinen einzigen dokumentierten Fall. Eine Sprecherin weist darauf hin, dass es möglich sei, dass sich Betroffene an externe Stellen gewandt hätten.
Sexuelle Belästigung in der Ärzteschaft auch in Deutschland
Auch in anderen Ländern ist sexuelle Belästigung unter Ärzten ein Thema. Das belegt ein neuer Report des medizinischen Newsdienstes «Medscape», für den 4339 Medizinerinnen und Mediziner aus Frankreich, Deutschland, Italien, Spanien, Portugal und Grossbritannien befragt wurden.
In allen sechs Ländern gab ein erheblicher Anteil der Befragten an, Opfer oder Zeuge sexueller Belästigung gewesen zu sein. Und in allen untersuchten Ländern waren die Täter überwiegend Männer, häufig selbst Ärzte und hatten meist eine höhere hierarchische Position inne als ihre überwiegend weiblichen Opfer.
Ein grosser Teil – zwischen 40 und 71 Prozent – gab an, die Vorfälle nicht gemeldet zu haben. Die Dunkelziffer wird entsprechend hoch eingestuft. Warum ist sexuelle Belästigung von Medizinstudenten und Ärzten also noch immer ein so grosses Tabuthema?
Grosses Tabuthema
2022 erregte eine Umfrage des Studentenvereins Clash Zürich, der sich gegen sexuelle Belästigung und Sexismus im Medizinstudium einsetzt, Aufmerksamkeit. 24 Prozent der Medizinstudentinnen gaben dabei an, Opfer eines solchen Verhaltens geworden zu sein. 69 Prozent der Beschuldigten waren männlich, 57 Prozent waren laut den Angaben Kaderärzte oder Oberärzte.
Zu einem ähnlichen Ergebnis kam eine Befragung des Verbands Schweizer Assistenz- und Oberärzt:innen Zürich (VSAO Zürich) 2024. Dabei gab jede fünfte befragte Person an, während der Karriere sexuell belästigt, diskriminiert oder gemobbt worden zu sein.
Die nach wie vor «sehr hierarchischen Strukturen», der geringe Anteil an Chefärztinnen, geschlossene OP-Säle, lange Schichtdienste, aber auch «die hohe emotionale Belastung» schienen dies zu begünstigen, schreibt die Rechtsanwältin und Geschäftsführerin des VSAO Zürich Susanne Hasse in ihrem Untersuchungsergebnis.
Warum melden sich so wenige Betroffene bei den Anlaufstellen?
Zudem seien gerade Assistenzärzte aufgrund ihrer Weiterbildung zum Facharzttitel in einem «doppelten Abhängigkeitsverhältnis» und damit besonders gefährdet, folgert Hasse in ihrem Bericht.
Diesem Abhängigkeitsverhältnis könnten die Assistenzärzte auch nach ihrer Ausbildung kaum entkommen: Experten seien in ihren Fachdisziplinen national gut vernetzt. Damit seien sie in der Lage, die Karriereperspektiven von jungen Berufskollegen massgeblich zu beeinflussen, sagt Hasse. Deshalb wehrten sich Betroffene auch kaum.
Angehende Chirurgen müssen eine bestimmte Zahl von Operationen gemacht haben, um ihren Facharzt abschliessen zu können. «Wer die Operation bekommt, hängt vom Willen anderer ab», sagt die Co-Präsidentin des Verbands Medical Women Switzerland (MWS) Daniela Zeller-Simmerl. Es gebe aber Fortschritte in den chirurgischen Disziplinen, Spitäler achteten stärker auf eine objektive und faire Verteilung der Operationen.
Zeller-Simmerl warnt zudem vor voreiligen Schlüssen: «Es gibt keine validen Statistiken, die Umfragen bringen einen grossen Bias mit sich.» Sexuelle Belästigung sei schon früher ein Problem gewesen, «aber kein spezielles der Chirurgie, sondern eines in allen medizinischen Bereichen».
Meldestellen, wie jene des VSAO oder der psychologischen Beratungsstelle für Mediziner Remed, werden zwar rege genutzt, allerdings selten wegen sexueller Belästigung. Dort wurden laut Zeller-Simmerl in den vergangenen fünf Jahren nur fünf solcher Fälle gemeldet.
Wie kann sexuelle Belästigung künftig verhindert werden?
Die Rechtsanwältin und VSAO-Zürich-Geschäftsführerin Hasse schlägt vor, dass der Berufsverband der Schweizer Ärzte (FMH) sexuelle Belästigung unter Kollegen explizit als Verstoss gegen die kollegiale Zusammenarbeit ahnden könnte. Damit riskierten Täter als Maximalstrafe den Ausschluss aus der FMH.
Zudem plädiert sie für das Instrument der Mediation in den Spitälern, um Kündigungen oder gar die Aufgabe des Berufs zu verhindern. «Schliesslich ist es das Ziel aller, dass die kostspielig ausgebildeten Fachexperten dem Gesundheitswesen erhalten bleiben», schreibt sie in ihrem Bericht.
Hasse fürchtet wegen des wachsenden Anteils an ausländischen Fachkräften, dass sexuelle Belästigung trotzdem ein grosses Problem bleiben dürfte: Ausländerinnen seien von ihrer Arbeitsstelle in der Schweiz abhängig und trauten sich deshalb oft noch weniger, sich zu wehren.
Das Problem, sagt die Chirurgin Zeller-Simmerl, liege «in der Sozialisierung der Gesellschaft, in der über Jahrtausende der Mann derjenige war, der die Führung übernahm». Zeller-Simmerl hofft deshalb «auf die junge Generation der Frauen, die mit mehr Selbstbewusstsein aufwächst. Dadurch werden auch junge Männer anders sozialisiert.»
Tatsächlich liegt der Frauenanteil im Medizinstudium seit einigen Jahren deutlich über jenem der Männer. 2023 wurden nach Angaben des Bundesamts für Statistik 62 Prozent der eidgenössischen Diplome für Humanmedizin an Frauen vergeben.
Ausserdem gingen die jungen Generationen direkter mit Problemen um, sagt Zeller-Simmerl, dadurch würden sie öffentlicher: «Ich bin sicher, dass sexuelle Belästigung in Zukunft abnehmen wird.»