Cup-Sieger, Tabellenführer, Champions-League-Halbfinal: Dank Hansi Flick schwebt Barça auf einer Wolke. Der deutsche Trainer macht selbst Lionel Messi vergessen.
Nach dem Spiel ist vor dem Spiel, im FC Barcelona überschlagen sich dieser Tage die Ereignisse: Am Sonntag in den frühen Morgenstunden feierten die Fans den 3:2-Sieg nach Verlängerung im Cup-Final gegen Real Madrid. Später am gleichen Tag zogen die Frauen in den Final der Champions League ein. Am Montag gewann der Klub in Nyon den Final der europäischen Youth League, derweil in der Heimat das ganze Land von einem mysteriösen Stromausfall lahmgelegt wurde. Und am Mittwochabend absolviert das Fanionteam im Champions-League-Halbfinal das Hinspiel gegen Inter Mailand (21 Uhr).
Wer behält da noch den Durchblick? Wohl nur einer wie Hansi Flick. Gelassen wie stets sprach der deutsche Trainer am Dienstagmittag davon, dass der Fokus aller nun den Italienern gelte und dass Siege offenkundig das beste Rezept gegen Müdigkeit seien: «Wir sollten geniessen, wie gut wir gerade spielen.»
Rückstand bis kurz vor Schluss wie im Cup-Final gegen Real, Erschöpfung, Stromausfall: Mit alledem kommt Barça klar, solange Hansi Flick an der Seitenlinie steht. Der 60-Jährige strahlt ein Urvertrauen aus, dass es schon gut ausgehen wird. «Ich denke immer positiv», sagt Flick. Und genau so spielt seine Mannschaft. Sie wirkt, als ob sie zu Flicks Abbild geworden sei.
Hansi Flick fördert die Jungen wie kein anderer
Flick steuert einen hochverschuldeten Krisenklub des letzten Jahrzehnts so erfolgreich durch die Saison, wie das niemand für möglich gehalten hätte. Das galaktische Real bezwang sein Team bereits 4:0 in der Liga und 5:2 im Supercup. Gleich mal die ersten drei Clásicos zu gewinnen – das schaffte vor Flick nur Josep Guardiola. In der Liga treffen sich die Erzrivalen in zehn Tagen erneut zum Showdown; Barça führt auch im Championat, mit vier Punkten.
Louis van Gaal hat mal den schönen Satz gesagt, der FC Bayern passe zu ihm wie ein warmer Mantel. Doch derjenige, der die Münchner dann mit sechs Titeln zur besten Saison der Vereinsgeschichte führte, war 2020 Flick. Nun legen sich seine Art, seine Ideen und seine Methode über den FC Barcelona, wohlig wie eine Cashmeredecke.
In seiner ersten Saison als Barça-Coach hat Flick so viele Junioren aus der Klubakademie La Masia in das Team integriert wie kein Vorgänger. Gleichzeitig hat er zuvor für überflüssig erklärte Profis wie den Innenverteidiger Iñigo Martínez oder den linken Flügel Raphinha zu ungeahnten Leistungsträgern geformt.
In der Sturmmitte kommt der 36-jährige, zurzeit verletzte Robert Lewandowski wieder auf Torquoten wie zu seinen besten Zeiten als Bayern-Goalgetter, auf Rechtsaussen entwickelt das Jahrhunderttalent Lamine Yamal, 17, ein verblüffendes Spielverständnis. Und in der Mitte von Flicks 4-2-3-1-System führt Pedri, 22, einerseits brillant Regie und ist andererseits der Spieler in Europas grossen Ligen mit den meisten Balleroberungen. «Es ist lange her, dass ich solch einen Mittelfeldspieler gesehen habe», sagte Mallorcas Trainer Jagoba Arrasate nach dem letzten Ligaspiel gegen den FC Barcelona.
155 Tore hat Barça in der laufenden Saison bereits erzielt. Die Abwehrreihe steht tollkühn hoch – sie wird bereits «Flick-Linie» genannt. Barças Spiel wirkt zurzeit so dynamisch und attraktiv, dass Flick niemand die Abkehr vom hausüblichen 4-3-3-System vorwerfen würde. Deshalb füllt sich, anders als in der vergangenen Saison mit dem glücklosen Trainer Xavi Hernández, sogar das ungeliebte, wegen seiner Leichtathletikbahn eher stimmungsarme Olympiastadion, während das Camp Nou umgebaut wird.
Spaniens grösste Tageszeitung, «El País», hat kürzlich gut umrissen, was der Deutsche da veranstaltet: Flick habe es nicht nötig, «sich auf Johan Cruyff oder Pep Guardiola zu berufen», um seine Identifikation mit Barça zu beglaubigen. Er lasse einfach die Fakten für sich sprechen. Flick habe in dem traditionell anspruchsvollen und zweifelnden Klub eine «komplexbefreite und bewunderte Familie» geschaffen, «die endlich die Post-Messi-Trauer beendet» habe. Wobei Barças Niedergang in Wahrheit schon in den letzten Jahren mit dem 2021 aus Geldmangel fortgeschickten Argentinier begann. Der Champions-League-Halbfinal ist für den Klub nun der erste seit 2019. Flick hat innert einer Saison das beste Barça des Jahrzehnts geformt. Aus einem weitgehend unveränderten Team, das nach der vergangenen Saison noch am Boden lag.
Dabei verzichtet das heutige Barça auf den pädagogischen Touch früherer Tage, auf das Reklamieren einer stilistischen Überlegenheit oder gar des Guten im Fussball, wie es während der Guardiola-Ära viele Gegner nervte und selbst noch vom Trainer Xavi insinuiert wurde – unter Letzterem standen die Darbietungen auf dem Platz oft in Kontrast zum Gesagten. Flick war nie ein Fan schillernder Medienkonferenzen oder sonstiger Überhöhungen. Wenig missfällt ihm mehr, als wenn sich Debatten vom Fussballerischen entfernen.
Seine Stärke ist das Erzeugen positiver Dynamiken
Eine Schlüsselerfahrung seiner Trainerkarriere, Deutschlands in jeder Hinsicht verunglückte WM-Teilnahme 2022, konnte Flick in dieser Haltung nur bestätigen. Die kritische Position gegenüber dem Gastgeber Katar schuf damals eine Negativität, die Flicks Stärke im Erzeugen positiver Dynamiken unterminierte. Der Bundestrainer vermochte das Politische nicht aus der Mannschaft herauszuhalten, und seine Amtszeit sollte sich vom frühen WM-Aus nicht mehr erholen. In Deutschland blieb das Bild eines Trainers hängen, der womöglich Euphorie zu managen verstehe, nicht aber Krisen.
En passant hat Flick in Barcelona auch dieses Urteil widerlegt. Während der bisher so exzellenten Saison baute sein Team nämlich auch einen Negativrekord ein: Vor Weihnachten resultierte eine Serie von nur fünf Punkten aus sieben Ligaspielen, einstweilen fiel Barça sieben Zähler hinter Real zurück. Doch Flick drehte an diversen Schrauben, stellte den aus dem Ruhestand verpflichteten Wojciech Szczesny ins Tor, verfeinerte die Koordination in der Abwehr, erhöhte mit dem ballsicheren Frenkie de Jong die Spielkontrolle. Im Jahr 2025 verlor Barça erst einmal, vor zwei Wochen beim 1:3 im Champions-League-Viertelfinal bei Dortmund, wobei die Partie nach dem 4:0 im Hinspiel bedeutungslos war.
Weil Flick nie das Vertrauen verlor, tat es auch seine Mannschaft nicht. Bald wird er seinen bis 2026 gültigen Vertrag verlängern, doch das interessiert ihn im Moment gar nicht, er will zunächst einmal einfach nur geniessen. «Einzigartig in meiner Berufskarriere» nannte er kürzlich das Niveau und die Mentalität seiner Spieler, «unglaublich» die Hingabe der Klubmitarbeiter: «Hier herrscht eine phantastische Atmosphäre.» Hansi Flick und der FC Barcelona: Es ist die Traumhochzeit der Unterschätzten.