Der Zürcher Staatsarchivar Beat Gnädinger hat darauf eine ungemütliche Antwort.
Die Behörden brachten sie als Kleinkind in ein Heim, in dem alles besser werden sollte. Weg von ihrer Familie, die als «verwahrlost» galt. Arm, arbeitslos und unfähig, auf die eigene Tochter zu schauen. Sie war damals ein kleines Mädchen, kaum im Primarschulalter.
Die Behörden versprachen einen sicheren Ort, eine Ausbildung, die Rettung vor der eigenen Herkunft. Stattdessen erlebte das Mädchen Schläge, Demütigungen, harte Arbeit und wiederholten sexuellen Missbrauch. Damals, in den 1950ern und 1960ern, als sich diese Geschichte zutrug.
Heute versprechen die Zürcher Behörden der Frau, unterdessen über 70, etwas anderes. Hilfe, Anerkennung – und eine finanzielle Wiedergutmachung.
Rund 20 Millionen Franken will der Kanton Zürich Opfern von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen auszahlen, 25 000 Franken pro Person. Die Behörden rechnen mit gegen tausend Bezügern; die Dunkelziffer ist jedoch hoch. Schweizweit ist von 50 000 bis 60 000 Opfern die Rede. Das Geld ist eine späte Anerkennung des Leids, das sie von staatlicher Seite erfahren haben.
Beat Gnädinger hat sich während Jahren für die Aufarbeitung dieses Leids eingesetzt. Er ist der Staatsarchivar des Kantons Zürich – und ihm hat auch das damalige Heimkind seine Geschichte erzählt.
Herr Gnädinger, wie ist es der Frau in den Jahren nach ihrer Einweisung ergangen?
Der Kanton Zürich hat sie damals fremdplatziert, in ein privates Heim in einem anderen Kanton. Wie es damals häufig geschah. Klare Kriterien oder Kontrollen gab es kaum. Der Handlungsspielraum der Behörden war viel zu gross. Man hat den Kindern Rettung versprochen, das Resultat war oft das Gegenteil. Die Frau wurde erst als Erwachsene entlassen und kämpft sich seither durch das Leben.
«Fremdplatziert», «administrativ versorgt», «fürsorgerisch untergebracht» – was steckt hinter diesen bürokratischen Begriffen?
Geschichten, die man nicht mehr vergessen kann. «Geistesschwache», die in eine Anstalt gesteckt wurden. Kinder, etwa von Fahrenden, die die Behörden zur Adoption freigaben. «Liederliche», bei denen eine Zwangssterilisation erwirkt wurde. Oder psychisch Kranke, an denen Ärzte nicht zugelassene Medikamente testeten. Das Einverständnis der involvierten Personen wurde in der Regel mit Druck erwirkt.
Der Staat griff also in private Freiheitsrechte ein, aus moralischen oder weltanschaulichen Gründen – weil seine Vertreter jemanden aus der Gesellschaft entfernen wollten.
Allen Fällen gemeinsam ist, dass die einschneidenden Massnahmen auf administrativem Weg verfügt wurden. Das heisst: ohne Gerichtsurteil, von einer Behörde. Dazu kommt tatsächlich in ganz vielen Fällen auch ein moralischer Anspruch: Da gibt es eine fahrende Familie – das dulden wir nicht. Oder da ist Alkoholismus im Spiel – da muss man doch eingreifen. Oder da gibt es eine sexuell aktive Mutter – der muss man die Kinder wegnehmen und sie sterilisieren.
Wie war so etwas in einer Gesellschaft möglich, die sich als freiheitlich versteht?
Die Geschichte beginnt schon im 19. Jahrhundert. Da fingen die Behörden an zu sagen: «Wer nicht sesshaft ist, stellt den Nationalstaat infrage, da müssen wir eingreifen.» Um die Jahrhundertwende sind es dann vor allem alkoholabhängige Männer, die in den Fokus geraten – weil sie als zu wenig arbeitstüchtig gelten. Später kommen Frauen dazu, die sich nicht sittenkonform verhalten. Und in der Nachkriegszeit dann die «Töffli-Buben» oder «Hasch-Brüder». Es blieb eine beengte Zeit, materiell und moralisch. Da konnte zum Beispiel ein Gemeindepräsident problemlos sagen: «Diese 17-Jährige, die sich mit zu vielen Männern trifft, die versorgen wir mal.»
Die fürsorgerischen Zwangsmassnahmen sind also ein Spiegelbild der Schweizer Ängste und Moralvorstellungen.
Genau. Und nur darum konnten sie so lange überdauern: weil es gesellschaftlich akzeptiert war, diese Leute wegzusperren.
Spielte auch die Kleinräumigkeit der Schweiz eine Rolle, ihr ausgeprägter Föderalismus?
Eine grosse. Es gab eine Vielzahl von Bestimmungen, auf kommunaler, kantonaler und Bundesebene. Mit diesem Dickicht konnten die Behörden spielen – und mehr oder weniger entscheiden, was sie wollten. Ärmere und sozial Benachteiligte, die sich da nicht so auskannten, waren dieser Willkür besonders ausgesetzt.
Nun will der Kanton Zürich die Opfer von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen entschädigen, mit insgesamt 20 Millionen Franken. Der Bund tut das bereits, einzelne Gemeinden wie die Stadt Zürich auch. Warum dieser neue Topf?
Eben genau weil alle staatlichen Stufen involviert waren. Nicht nur der Bund, auch der Kanton Zürich ist verantwortlich. Wir helfen den Betroffenen seit Jahren bei der Suche nach Akten und bei Gesuchen um Solidaritätsbeiträge. 1500 Betroffene waren schon bei uns. Und da tauchte immer wieder die Frage auf: Der Bund zahlt, aber was ist mit euch?
Kann Geld das erlittene Leid aufwiegen?
Nein. Aber es ist ein Signal: eine Anerkennung, dass der Staat nicht korrekt gehandelt hat. Und dass er die Opfer heute als Bürgerinnen und Bürger ernst nimmt. Man muss sehen: Die meisten von ihnen sind auch heute noch nicht auf Rosen gebettet. Und diese 25 000 Franken, die ihnen nach der Prüfung ihres Gesuchs zustehen, haben einen speziellen Status. Sie können nicht gepfändet oder zur Schuldentilgung eingezogen werden. Die Betroffenen können damit machen, was sie wollen. Sie können sich eine Reise leisten, ein schönes Kleid, einen Töff.
Es ist also ein kleines Stück Freiheit für Leute, denen einst ein Stück Freiheit genommen wurde.
Ja. Sich selbst etwas gönnen, sich etwas leisten zu dürfen – das ist ein Privileg, das vielen von ihnen bis heute verwehrt geblieben ist.
Fürsorgerische Zwangsmassnahmen gab es auch in anderen Ländern. Wie steht die Schweiz bei der Aufarbeitung im internationalen Vergleich da?
Speziell ist, wie breitflächig wir hierzulande an die Aufarbeitung herangegangen sind. Administrative Massnahmen wurden als Ganzes erforscht. Entsprechend können auch viele Betroffene eine Entschädigung beantragen. Das ist im Ausland oft anders, dort werden in der Regel sehr eng gefasste Gruppen entschädigt. In Deutschland etwa Opfer von Übergriffen in evangelischen Heimen. Oder in Irland solche von Missbrauch durch katholische Geistliche. In der Schweiz stehen nicht einzelne Bösewichte im Zentrum, sondern das System – die Behörden, Gesetze, Wertvorstellungen –, das ihr Tun ermöglichte. Ich glaube, auf diese Aufarbeitung dürfen wir auch ein bisschen stolz sein.
Seit über hundert Jahren gibt es Kritik an der administrativen Versorgung, doch erst in den letzten Jahrzehnten ist diese Kritik zur Mehrheitsmeinung geworden. Was ist da gekippt?
Ich denke da gerne an die Debatte im Nationalrat zurück. 2016, als die Wiedergutmachungsinitiative des Unternehmers Guido Fluri behandelt wurde. Da wurde klar: Jeder und jede im Ratssaal hat einen Onkel, der nie aus seinem Leben erzählt. Oder eine Tante, die mal nebenbei erwähnt hat, dass sie für ein paar Jahre «woanders war». Oder sonst eine Geschichte, die zeigt: Diese Realität ist näher an der meinen, als mir lieb ist. Es war ein kollektives Aha-Erlebnis.
Wie war das bei Ihnen?
Ich bin auf dem Land aufgewachsen, ein paar Jahre davon in Rüdlingen im Kanton Schaffhausen. Dort arbeiteten auf den Bauernhöfen Knechte, die ausser Kost und Logis nichts bekamen. Wie sie dorthin kamen, darüber hat man nicht gesprochen. Es gab auch eine evangelische Heimstätte, in die jedes Jahr das Waisenhaus Schaffhausen zum Sommerlager kam. Der Waisenvater trat als Lichtgestalt auf, die Kinder um sich geschart. Dabei war er, wie man heute dank Untersuchungen weiss, ein gewalttätiger Tyrann.
Es gibt in der Schweiz auch andere Gruppen, die analog zu den fürsorgerischen Zwangsmassnahmen eine Entschädigung verlangen. Zum Beispiel die Kinder von Saisonniers, die wegen der Schweizer Ausländergesetze versteckt oder getrennt von ihren Eltern leben mussten. Stehen wir mitten in einer Aufarbeitungswelle?
Ich glaube nicht, dass es zu einer Kaskade von Forderungen kommen wird. Was mich aber zuversichtlich stimmt: Der Staat hat bewiesen, dass er sich solchen Diskussionen stellen kann und will. Da gibt es kein Zurück. Auch für andere nicht, die Teil des Systems waren – etwa die Kirchen.