Mit den neuen Verträgen könnte die Schweiz mit der EU vor einem Schiedsgericht über die Zuwanderung streiten. Am Mittwoch hat der Bundesrat beschlossen, wie er diese Chance nutzen will.
Egal wie viele Streitfragen das neue bilaterale Vertragspaket mit der EU aufwirft, am Ende steht meist dasselbe Thema im Zentrum: die Zuwanderung. Der Zustrom aus Europa via Personenfreizügigkeit in den Schweizer Arbeitsmarkt prägt die gesamte Debatte. Am Mittwoch hat der Bundesrat in dieser Sache Beschlüsse gefällt, die über das Schicksal des ganzen Pakets entscheiden können. Er legte fest, wie die neue Schutzklausel funktionieren soll, auf die sich die Schweiz und die EU in den Verhandlungen letztes Jahr geeinigt haben. Die Übereinkunft mit Brüssel regelt nur die Grundsätze, alles Weitere wird die Schweiz autonom im Ausländergesetz festlegen.
Das Prinzip klingt einfach: Die Klausel soll es der Schweiz ermöglichen, die Personenfreizügigkeit «bei schwerwiegenden wirtschaftlichen oder sozialen Problemen» vorübergehend einzuschränken. Im Detail stellen sich knifflige Fragen.
Wann soll die Klausel greifen?
Der Bundesrat ist spürbar bemüht, dies möglichst objektiv zu regeln. Er operiert mit statistischen Kennzahlen. Bei den wichtigsten Grössen sind verbindliche Schwellenwerte geplant. Dazu zählen die Zuwanderung aus der EU, die Zahl der Grenzgänger, die gesamte Arbeitslosigkeit sowie die Sozialhilfequote der EU-Bürger. Nimmt eine dieser Kennzahlen in kurzer Zeit stark zu, muss der Bundesrat zwingend die Auslösung der Schutzklausel prüfen. Falls er darauf verzichtet, die Zuwanderung zu begrenzen, muss er auch dies öffentlich erklären.
Ob die Klausel jemals aktiviert wird, hängt primär von der effektiven Höhe der vier Schwellenwerte ab. Werden sie so definiert, wie es zurzeit angedacht ist, hätte der Bundesrat seit dem Jahr 2002 acht Mal eine Einschränkung der Personenfreizügigkeit prüfen müssen. So oft wurde einer der Grenzwerte überschritten, viermal wegen der Arbeitslosigkeit, je zweimal wegen der Zuwanderung und der Grenzgänger. Der Bundesrat will die Schwellenwerte letztlich in eigener Kompetenz in der Verordnung festlegen.
Weitere Kennzahlen etwa zur Lohnentwicklung, zu den Leerwohnungen oder den Staustunden dienen als Indikatoren. Wenn sie auf negative Entwicklungen hindeuten, kann der Bundesrat aus freien Stücken aktiv werden und die Schutzklausel auslösen. Auch die Kantone können diesen Schritt verlangen, falls sich die Kennzahlen in ihrem Gebiet stark verschlechtern.
Ein Punkt dürfte manche enttäuschen: Eine grosse Nettozuwanderung allein wird nicht genügen, um die Personenfreizügigkeit einzuschränken. Im Vorfeld hatte der zuständige Bundesrat Beat Jans grosse Erwartungen geweckt: «Wenn wir weiterhin eine so hohe Zuwanderung haben, gehe ich fest davon aus, dass die Schweiz die Schutzklausel aktivieren wird», sagte er in einem NZZ-Interview.
Nun ist zwar tatsächlich vorgesehen, dass der Bundesrat die Auslösung der Klausel auch dann prüfen muss, wenn einzig die Zuwanderung stark steigt. Wenn aber die Schweiz nicht gleichzeitig auch wirtschaftliche Probleme nachweisen kann, die sich auf die Migration aus der EU zurückführen lassen, sind die Vorgaben der Schutzklausel nicht erfüllt.
In diesem Punkt unterscheidet sich das Konzept grundlegend von der SVP-Initiative «Keine 10-Millionen-Schweiz», die wohl 2026 an die Urne kommt. Sie sieht fixe Obergrenzen für die Bevölkerungszahl vor und verlangt als Ultima Ratio die Kündigung der Personenfreizügigkeit. Aber nicht nur die SVP will weitergehen als der Bundesrat. Der Mitte-Präsident Gerhard Pfister propagiert einen Gegenvorschlag, der ebenfalls über die Schutzklausel hinausgeht: Nach seinem Ansatz könnte die Schweiz die Freizügigkeit allein aufgrund der Zuwanderung bremsen, wenn diese deutlich grösser ausfällt als im Durchschnitt der europäischen Länder.
Wer entscheidet, ob die Schutzklausel zum Einsatz kommt?
Das war eine der Fragen, die in der Bundesverwaltung einiges zu reden gegeben haben sollen. Wie geht es weiter, wenn die Schwellenwerte überschritten sind oder die Indikatoren eine Reduktion nahelegen? Nun ist vorgesehen, dass der Bundesrat die Hauptrolle spielt. Er entscheidet nicht nur, wann die Schutzklausel ausgelöst wird, sondern auch, wann die vorgesehenen Massnahmen tatsächlich umgesetzt werden. Vorher muss er allerdings die Kommissionen des Parlaments, die Kantone und die Sozialpartner anhören. Die Kantonsregierungen wiederum können zwar regionale Schutzmassnahmen vorschlagen, aber auch hier bleibt der Entscheid beim Bundesrat.
Mit welchen Massnahmen kann die Schweiz die Zuwanderung begrenzen?
Die Palette möglicher «Bremsklötze» ist breit. Um die Zuwanderung in den Arbeitsmarkt zu erschweren, könnte der Bund wieder vorgängige Kontrollen der Lohn- und Arbeitsbedingungen durchführen. Möglich wären auch eine Verschärfung des Inländervorrangs, weniger Aufenthaltsrechte für Arbeitslose oder kürzere Fristen für die Stellensuche. Am oberen Ende der Skala stehen Kontingente und Höchstzahlen, die für einzelne Regionen oder Berufe differenziert eingeführt werden könnten. Wenn all dies nicht reicht, müsste der Bundesrat dem Parlament eine Vorlage unterbreiten, die noch weitergeht.
Was passiert, wenn die EU nicht einverstanden ist?
Hier liegt der eigentliche Fortschritt der ganzen Übung: Die Schutzklausel an sich ist nicht neu, sie ist bereits heute im Abkommen über die Personenfreizügigkeit verankert. Völlig neu ist aber das Verfahren, das die Schweiz via die Klausel in Gang setzen kann. Will der Bund die Zuwanderung begrenzen, bringt er dies zuerst auf politischer Schiene mit der EU zur Sprache (im «Gemischten Ausschuss»). Gelingt dort eine Einigung, ist der Fall erledigt, und die Massnahmen treten in Kraft.
Wenn aber die EU nicht einverstanden ist, bedeutet dies – im Gegensatz zu heute – nicht das Ende des Verfahrens. In diesem Fall kann die Schweiz neu ein Schiedsgericht einberufen, bestehend aus je einem Vertreter beider Seiten sowie einem unabhängigen Vorsitzenden.
Die drei Schiedsrichter prüfen innerhalb von sechs Monaten, ob in der Schweiz die Voraussetzungen für Schutzmassnahmen erfüllt sind – ob also tatsächlich «schwerwiegende Probleme» vorliegen, die durch die Zuwanderung begründet sind. Wenn das Gericht dies bejaht, hat die Schweiz freie Hand. Sie müsste jedoch damit leben, dass die EU analoge Ausgleichsmassnahmen ergreifen könnte. Davon wären am ehesten Schweizer betroffen, die neu in ein EU-Land ziehen möchten.
Wenn aber die EU vor dem Schiedsgericht gewinnt, wird es kompliziert. Auch in diesem Fall könnte die Schweiz die Personenfreizügigkeit begrenzen, ohne dass sofort eine politische Eskalation drohen würde. Möglich macht dies das allgemeine Verfahren zur Streitbeilegung, das mit den neuen bilateralen Abkommen eingeführt werden soll.
Allerdings wäre der Preis, den die Schweiz für eine Beschränkung der Zuwanderung bezahlen müsste, in einem solchen Szenario höher: Die EU könnte Gegenmassnahmen ergreifen, die zwar verhältnismässig sein müssen, aber auch sachfremde Bereiche wie die Exportwirtschaft treffen könnten. Einige mögliche «Opfer» sind jedoch mit Ausnahmeregelungen abgesichert, so etwa die Landwirtschaft oder die Hochschulen.
Fazit: Auch mit der neuen Schutzklausel darf die Schweiz die Personenfreizügigkeit nicht einfach so nach eigenem Gutdünken begrenzen – und schon gar nicht dauerhaft. Aber sie erhält mehr Spielraum für schlechte Zeiten. In künftigen Notlagen hätte der Bund bessere Chancen, die Zuwanderung im Einvernehmen mit der EU zu drosseln. Brüssel könnte sich nicht einfach querlegen, weil klar ist, dass die Schweiz den Fall vor das Schiedsgericht ziehen kann.
Neu wäre zudem, dass mit den geplanten Verträgen auch die Vertragsverletzung geregelt wird: Heute drohen bei einem Verstoss gegen die Freizügigkeit kaum berechenbare politische Störungen. Restlos berechenbar wären die Folgen auch künftig nicht, aber zumindest klarer als heute sollten sie sein. Es gäbe ein Rechtsverfahren vor einem unabhängigen Gericht.
Der Europäische Gerichtshof (EuGH) könnte bei Streitigkeiten um die Schutzklausel nicht mitreden – davon zeigen sich zumindest die Schweizer Verantwortlichen überzeugt: Die Klausel und das Verfahren seien bewusst knapp formuliert worden. Man habe auch auf Begriffe aus dem EU-Recht verzichtet, um zu vermeiden, dass sich der EuGH in Streitfälle um die Zuwanderung einschalten kann. Aber diese These ist umstritten – wie fast alles in dem Dossier.
Kommt hinzu, dass die vollständigen Unterlagen zur Schutzklausel noch gar nicht vorliegen. Der Bundesrat hat am Mittwoch nur summarisch darüber informiert, veröffentlicht werden sie erst im Juni, wenn die Vernehmlassung zum gesamten EU-Paket eröffnet werden soll.