2004 führte uns Facebook in die schöne neue Welt der sozialen Netzwerke ein, erstmals posteten, teilten und likten wir. Dann gingen die Skandale los. Die Autorin erzählt, wie Facebook sie in den vergangenen zwanzig Jahren begleitet hat.
Jeder kennt heute Facebook, drei Milliarden Menschen – fast die halbe Menschheit! – haben dort ein Nutzerkonto. Die Zeit vor Facebook scheint lange her zu sein – aber ich erinnere mich noch genau, wann ich zum ersten Mal von dem sozialen Netzwerk hörte. Es war 2005, ich war zwanzig und verbrachte All-inclusive-Ferien in Südspanien, wo meine amerikanische Freundin Kelly ständig auf dem Computer in unserer Hotellobby diese neue Website «The Facebook» checkte. Dafür musste man eine E-Mail-Adresse einer amerikanischen Universität haben; eine solche hatte ich nicht, also schaute ich Kelly neidisch über die Schulter, als sie Status-Updates unserer gemeinsamen Freunde aufrief und Fotos von der Alhambra postete.
Facebook war das hippe neue Ding aus den USA, nach dem ich mich sehnte wie einst nach neuen Staffeln amerikanischer Fernsehserien, Musikalben oder Kleidern von Abercrombie. Bald hatte das Warten ein Ende: 2006 öffnete sich «Facebook», wie die Plattform inzwischen hiess, für Nutzer ausserhalb der amerikanischen Uni-Landschaft – und eroberte den Globus.
Während eines Austauschjahres in Chile eröffnete auch ich ein Konto. Die schöne neue Welt der Social Media war verblüffend: Nun konnte ich sehen und lesen, was Freunde in aller Welt trieben. Wie man sich selbst auf der Plattform präsentierte, wurde schnell wichtig. Ständig lud ich nun neue Fotos hoch: Astrid beim Frühstücken, Astrid beim Bergsteigen, Astrid nach einem Glas zu viel auf einer Party. Als Teil der ersten Generation der Social-Media-Nutzer dämmerte mir noch nicht, dass man manche Fotos besser nicht postete, weil auch Personalabteilungen Facebook-Profile anschauen. Oder dass Facebook jede Sekunde meines Verhaltens analysierte. Oder dass es mir quer durchs Internet folgte.
Statt neue Bekannte im Studium nach ihrer Handynummer zu fragen, sagte ich nun: «Bist du auf Facebook?» Sie waren es alle. Nur drei Jahre nach dem Start in Harvards Studentenwohnheim hatten sich 50 Millionen Nutzer weltweit registriert. Doch das war erst der Anfang: Nachdem Apple mit dem iPhone das Smartphone massentauglich gemacht hatte, brachte auch Facebook 2008 eine eigene App heraus. Von nun an war das soziale Netzwerk immer in meiner Hosentasche dabei.
Bald konnte man Beiträge und Fotos dort auch «liken». Im Februar 2009 führte Facebook den «Daumen hoch»-Button ein; ursprünglich hatte die Firma ein Sternchen erwogen oder ein Pluszeichen. Der Daumen wurde zum Gradmesser der eigenen Popularität. Ich schaute genau, wie viele und welche Freunde meine Fotos und Beiträge likten und was sie kommentierten. Die Suche nach dem richtigen Profilbild füllte Abende, genauso das Stalken neuer Bekannter. Wer war der süsse neue Typ da in der Vorlesung? Es brauchte nur einen Namen, Facebook lieferte Antworten.
Plötzlich waren auch die Freunde der Eltern auf Facebook
Der Wendepunkt kam, als sich eine Freundin meiner Mutter auf der Plattform registrierte und mir eine Freundschaftsanfrage schickte. Es war 2010, Facebook hatte eine halbe Milliarde Nutzer, zu den Millennials hatte sich die Generation der Babyboomer gesellt. Ich hätte die Anfrage am liebsten abgelehnt, nur wäre das im realen Leben ein Fauxpas gewesen. Also klickte ich auf «akzeptieren», aber überlegte mir nun genauer, welche Fotos und Informationen ich teilte. Immer öfter entfernte ich meinen Namen, wenn mich Freunde in einem Foto markierten.
Beruflich wiederum nutzte ich Facebook so intensiv wie nie zuvor: An der Journalistenschule lernten wir, welch ein Datenschatz sich dort für Recherchen verbarg und wie man ihn sich zunutze machte. Eine Milliarde Nutzer hatte die Plattform nun 2012. Ich kontaktierte so mögliche Protagonisten für Artikel und recherchierte in den Facebook-Profilen von Interviewpartnern. Kaum jemand hatte einmal einen Blick in seine Datenschutzeinstellungen geworfen, fast jeder Nutzer war wie ein offenes Buch. Auch das war ein Grund, weshalb ich selbst auf Facebook immer stummer wurde.
Doch den wahren Kern des Geschäftsmodells hatte ich damals immer noch nicht verstanden – und viele andere offenbar auch nicht. Als Mark Zuckerberg – ein Millennial wie ich – seine Firma 2012 an die Börse brachte, war die Skepsis gross, wie das soziale Netzwerk überhaupt Geld verdienen würde. Das spiegelte sich im Aktienpreis, im ganzen ersten Jahr krebste dieser deutlich unter dem Ausgabepreis von 38 Dollar herum (heute stehen die Papiere bei 400 Dollar).
Nur die wenigsten verstanden damals, dass Zuckerberg seine Firma zwar nach aussen als das altruistische Netzwerk pries, dank dem die Welt näher zusammenrückte – dass er aber auch eine gigantische Werbeplattform gebaut hatte. Gemeinsam mit der Nummer eins, Google, vereinte Facebook bald 50 Prozent des globalen digitalen Werbemarktes auf sich. Die persönlichen Angaben und Likes, die die Nutzer ständig teilten, ermöglichten Facebooks Anzeigenkunden eine massgeschneiderte Ansprache von Zielgruppen. Gleichzeitig schufen die von uns erstellten Beiträge einen endlosen Fluss an neuen Inhalten, um die herum diese Anzeigen platziert wurden. Das ist so, als schrieben Leser die Texte ihrer Zeitung selbst und füllten obendrauf noch Fragebögen für die Werbeindustrie aus.
Facebook verleibt sich Whatsapp und Instagram ein
Obwohl ich selbst immer weniger postete, breitete sich Facebook immer tiefer in meinem Leben aus. Im Jahr 2014 verleibte sich der Konzern den Nachrichtendienst Whatsapp ein – auf einmal hatte Mark Zuckerberg auch diese Nutzerdaten von mir. 2012 hatte er bereits Instagram gekauft; Dutzende weitere Firmen sollten bis heute folgen.
Dass die Dinge allmählich aus dem Ruder liefen, zeigte sich, als Facebook 2015 die Live-Funktion einführte. Nutzer konnten nun ihre Videoaufnahmen in Echtzeit übertragen, jeder hatte plötzlich seinen persönlichen Fernsehsender. Was dann passierte, war eigentlich absehbar: Menschen begingen Verbrechen, Suizide und Amokläufe vor einem Live-Publikum.
Facebooks hässliche Seite wurde immer deutlicher. Im amerikanischen Wahljahr 2016 versuchten ausländische Akteure so den Wahlkampf zu manipulieren. Sie verstanden die Plattform besser, als es der Gründer Zuckerberg tat: Russische Trolle etwa nutzten aus, dass der Algorithmus Inhalte honoriert, die bei den Nutzern auf starkes Interesse stossen. So war es etwa möglich, dass 156 Fake-News-Beiträge 760 Millionen Mal auf Facebook gelesen wurden. Moskau hatte aus dem sozialen Netzwerk eine Waffe gemacht und sie gegen die USA selbst gerichtet.
2018 lernten wir, dass nicht nur die Russen verstanden hatten, wie man Facebooks Datenschatz hebt. Auch die Firma Cambridge Analytica hatte die Profile von 87 Millionen Facebook-Nutzern abgeschöpft, ohne deren Wissen oder Einverständnis, und daraus ein politisches Verhaltensmodell gebastelt.
Die Empörung war riesig. Unter dem Schlagwort #DeleteFacebook kehrten Nutzer der Plattform den Rücken. Wäre das nicht der Zeitpunkt, auch mein Konto zu löschen? Hin- und hergerissen, scrollte ich durch meine Facebook-Fotos: An die 500 Aufnahmen hatte ich hochgeladen, in nochmals 200 Fotos war ich markiert. Nirgends sonst gab es diese digitale Chronik meines Lebens zwischen 20 und 30.
Und da waren meine Facebook-Freunde, inzwischen 624. Von so vielen hatte ich weder Handynummer noch E-Mail-Adresse, Facebook war unser digitales Dosentelefon rund um den Erdball. Wollte ich diese Leitung wirklich kappen? Ich entschied mich dagegen – und es sollte sich zeigen: Die meisten anderen auch. Es kam nicht zum vielbeschworenen Facebook-Exodus, im Gegenteil – 2019, im Jahr nach dem Cambridge-Analytica-Skandal, feierte die Plattform 2,5 Milliarden monatlich aktive Nutzer. Jahre später stellte sich dann heraus, dass das ach so mächtige Vorhersagemodell von Cambridge Analytica letztlich wenig wirkungsvoll gewesen war.
Heute ist die Plattform eine Mischung aus Gelben Seiten und Ebay
Heute bin ich froh, das Konto noch zu haben. Der Konzern ist mittlerweile von Facebook in Meta umgetauft worden, aber macht immer noch 98 Prozent seines Umsatzes mit Werbung. Ich lebe und arbeite inzwischen als Korrespondentin in den USA, und hier spielt Facebook noch immer eine zentrale Rolle im Alltag: In Facebook-Gruppen finde ich Joggingpartner, gebrauchte Möbel und Antworten zu Visumsfragen.
Facebook ist für mich kein soziales Netzwerk mehr wie zu Studienzeiten, sondern eine Mischung aus Gelben Seiten und Ebay. Nostalgisch klicke ich durch die alten Fotos aus Südspanien von Kelly und mir. Inzwischen postet sie auf Instagram, wie so viele meiner amerikanischen Freunde. Ich tue das nicht, mein Privatleben findet auf Social Media praktisch nicht statt. So ist es besser für mein Seelenheil. Mit all den Skandalen hat mir Facebook beigebracht, dass man sich genau überlegen muss, was man den Algorithmen der sozialen Netzwerke zum Frass vorsetzt, und wie Selbstverantwortung im digitalen Zeitalter aussieht. Für diese Lektion bin ich Mark Zuckerberg sehr dankbar.