Marcos Darbyshire inszeniert Puccinis Opernkrimi auf dem Klosterhof als Fallstudie einer strauchelnden Staatskünstlerin, die in die Mühlen eines Unrechtsstaats gerät. Parallelen zur Gegenwart sind beabsichtigt.
Diesmal stürzt die Kathedrale nicht ein. Sie geht auch nicht in Flammen auf. All das und noch etliche weitere Regieeinfälle hat die Klosterkirche in St. Gallen schon über sich ergehen lassen müssen. Doch in diesem Sommer steht der barocke Prachtbau einfach da, von Licht- und Video-Projektionen unbehelligt, und versinkt wie eine stille Mahnung allmählich in der Dunkelheit des Abends. Das ist überraschend und wirkt auf den ersten Blick sogar wie eine vertane Chance. Denn immerhin haben die St. Galler Festspiele zur Feier ihres zwanzigjährigen Bestehens ausgerechnet jenes Stück ausgewählt, in dem sich Kirche und Oper so nahe kommen wie in kaum einem anderen Bühnenwerk: Giacomo Puccinis «Tosca».
Der Griff zu einem der meistgespielten Titel des Repertoires ist auch noch in anderer Hinsicht eine Überraschung: Er bricht offen mit dem etablierten Profil dieses Open-Air-Festivals, das sein Publikum während der vergangenen Jahre regelmässig mit vergessenen Meisterwerken vertraut gemacht hat, 2021 etwa mit der an diesem Ort besonders stimmig wirkenden Victor-Hugo-Adaption «Notre Dame» von Franz Schmidt. Die Wahl der populären «Tosca» mag als Lizenz an das Jubiläumsjahr der Festspiele durchgehen, zudem könnte sie wirtschaftlichen Erwägungen geschuldet sein, nachdem das Festival bei seinem Ausflug auf den Flumserberg in der Saison 2024 von Wetterkapriolen heimgesucht worden war. Der entscheidende Grund aber dürfte sein: «Tosca» passt gerade erschreckend gut in unsere Zeit.
Eine verdiente Staatskünstlerin
Das macht die kluge Inszenierung dieses Opernkrimis auf dem Klosterplatz vom ersten Moment an deutlich. Der Regisseur Marcos Darbyshire erzählt die Geschichte der Sängerin Floria Tosca als Drama einer Starkünstlerin, die mehr oder weniger unverschuldet in die Fänge eines totalitären Staates gerät. Assoziationen drängen sich auf, namentlich Parallelen mit dem Fall der Primadonna Anna Netrebko liegen auf der Hand. Sie wird seit dem russischen Überfall auf die Ukraine hartnäckig einer Nähe zum Putin-Regime verdächtigt; sie weist dies, ebenso hartnäckig, zurück. Freilich geht es Darbyshire um mehr als ein Einzelschicksal: Er führt eindringlich vor, wie schnell jeder exponierte Künstler seine Reputation und sogar sein Leben verlieren kann, wenn er sich mit den falschen Machthabern einlässt.
Dazu verlegt die Produktion das Geschehen in einen historisch unbestimmten, aber eindeutig protofaschistischen Staat. Annemarie Bullas Kostüme nehmen Bezug auf die Verfilmung von Margaret Atwoods Dystopie «Der Report der Magd» durch Volker Schlöndorff. Wie dort die Bewohner der fiktiven Diktatur «Gilead» – gemeint sind die USA – werden die Menschen hier durch uniforme rote, graue oder schwarze Kostüme irgendwelchen «Nutzanwendungen» für die Gesellschaft zugeordnet. Damit das Ganze auch für das Publikum nicht zu gemütlich wird, paradieren schon vor Beginn der Aufführung gesichtslose Schergen mit Ledermasken und Schlagstöcken über den Klosterplatz. Während der Pause werden einzelne «Besucher» sogar verprügelt und abgeführt – zum Glück sind es Statisten.
Drahtzieher hinter diesem Überwachungssystem ist natürlich der böse Polizeichef Scarpia, der überall seine Spitzel hat. Alexey Bogdanchikov singt und gestaltet ihn in einem grandiosen Rollenporträt als gefährliche Mischung aus einem bürokratischen Biedermann mit schmierigem Resthaar und einem zynischen Sadisten, der seinen Macht- und Sex-Gelüsten im zweiten Aufzug, dem berüchtigten «Folter-Akt», freien Lauf lässt. Dass er sich die begehrte Tosca nur mit Gewalt gefügig machen kann, wirkt hier so einleuchtend wie selten: Sie und dieser Widerling leben in getrennten Welten. Aber leider nur scheinbar.
Als verdiente Staatskünstlerin und verwöhnt vom Applaus der höchsten Gesellschaftskreise, glaubt Tosca, allein für die Kunst und die Liebe leben zu können; die dunklen Mächte abseits des Scheinwerferlichts ignoriert sie. Umso tragischer wirkt der Moment der Selbsterkenntnis in der berühmten Arie «Vissi d’arte, vissi d’amore». Die Sopranistin Libby Sokolowski singt sie voll Schmerz und mit offen ausbrechender Verzweiflung. Wiederum ist sie dabei eingehüllt in einen gleissenden Lichtkegel – wie bei ihrem bejubelten Auftritt mit einer Kantate zu Beginn des zweiten Akts. Doch von Toscas einstigem Glamour ist nichts geblieben, sie liegt buchstäblich am Boden zerstört auf einer abschüssigen Theatertreppe.
Vor diesem Absturz hat sie weder die vermeintlich über alles erhabene Kunst bewahren können noch die Liebe. Diese Ernüchterung erklärt den Mut der Verzweiflung – und auch dies sieht man selten so schlüssig –, mit dem Tosca den Übergriff Scarpias am Ende des Aufzugs abwehrt: Weil ihr der Vergewaltiger das dabei normalerweise zum Einsatz kommende Messer kalt lächelnd in letzter Sekunde entwindet, rammt sie ihm todesmutig den abgeschlagenen Hals seiner Rotweinflasche in die Bauchschlagader. Das ist drastisch, wie manch anderes in dieser Inszenierung, und lässt kurz um den Schlaf der anwesenden Kinder bangen. Aber dies ist halt kein harmloses Stück.
Ein heimlicher Dissident
Die Inszenierung gibt auch dem Dritten in dem tödlichen Dreiecksspiel ein stärkeres Profil, als es bei konventionellen «Tosca»-Produktionen oft der Fall ist. Der Maler Mario Cavaradossi ist hier nicht bloss der leidenschaftliche Liebhaber Toscas, sondern ein heimlicher Dissident – die Regie hat da sehr genau ins Textbuch geschaut. Das Altarbild, an dem der Maler im ersten Akt arbeitet, entpuppt sich folgerichtig zu den letzten Takten des Te Deum als Variation von Eugène Delacroix’ Gemälde «La liberté guidant le peuple». Denn darum geht es: um die Befreiung von den Fesseln dieser leider sehr kenntlichen Form der Diktatur, in der auch die Kirche nur Teil des Machtapparats ist.
Jorge Puerta zeichnet mit fokussierter, höhensicherer Tenorstimme den Lebensweg Cavaradossis nach: von der schwärmerischen Euphorie des Aufbruchs in eine ersehnte neue Zeit bis zur totalen Desillusionierung im bekannten «E lucevan le stelle», zu dem in St. Gallen wirklich die Sterne leuchten. Aber vergeblich: Es gibt keine Hoffnung mehr, auch nicht im letzten Duett mit Tosca, die ihn eigentlich zu retten meint. Anders als sie hat er bereits das Scheitern der Kunst und der Liebe vor der Brutalität der Macht erkannt.
Mit Kristján Jóhannesson als tragikomischem Messner, der sich in Opportunismus rettet, und Jonas Jud in der Rolle des geflohenen Konsuls Angelotti, dem man in der Haft jede Würde genommen hat, sind auch die Nebenrollen stark besetzt und plastisch charakterisiert. Allen Sängern hilft die unter freiem Himmel notwendige Verstärkung via Mikroports, die den Stimmen Vorrang vor dem Orchester einräumt. Am Pult des Sinfonieorchesters St. Gallen sorgt Giuseppe Mentuccia für nie nachlassende Verismo-Spannung, allerdings gehen einige Feinheiten im etwas pauschalen Klang der Live-Zuspielung unter. Doch das bleibt der einzige Wermutstropfen bei dieser überaus sehenswerten Produktion, die noch bis zum 4. Juli gezeigt wird.