Die israelische Soziologin fürchtet nach Israels Angriff auf Iran noch mehr Judenhass. Ein Teil der Linken gleiche einer Sekte. Sie kritisiert auch die eigene Regierung: Der Krieg in Gaza müsse beendet werden.
Frau Illouz, nach dem 7. Oktober waren Sie enttäuscht von vielen linken Intellektuellen, die das Massaker der Hamas kaum verurteilen mochten. Sie haben öffentlich mit ihnen abgerechnet und sprachen von Verrat. Wie sehen Sie das heute?
Der 7. Oktober markierte einen Bruch innerhalb der Linken. Heute gibt es zwei Linke. Die eine hat den Antizionismus und den Krieg in Gaza zum Hauptgegenstand ihrer Identität und ihres Kampfes gemacht. Sie lebt in einer bizarren, permanenten Obsession gegenüber Israel. Es gibt eine andere Linke, zu der ich gehöre, für die Israel zwar ein fehlerhaftes Land ist, aber sicherlich nicht schlechter als viele andere.
Wie definieren Sie Ihre Linke?
In meiner Linken kann man gleichzeitig die Besetzung palästinensischer Gebiete und den Antisemitismus bekämpfen. Die Linke, an die ich glaube, will das Existenzrecht Israels, das Recht auf Selbstverteidigung im Falle eines Angriffs, das Recht auf Bekämpfung des Antisemitismus sowie das Selbstbestimmungsrecht der Palästinenser bewahren. Die andere Linke ist meiner Meinung nach keine Linke mehr. Sie ist etwas anderes, eher eine religiöse und irrationale Sekte.
Am Glastonbury-Festival vor ein paar Tagen hat die Menge «Tod, Tod, Tod den IDF» skandiert, angefeuert vom Sänger Bob Vylan. Bei propalästinensischen Demos geht es meist um Israel-Hass. Schürt der kurze Krieg mit Iran die Feindseligkeit gegenüber Juden noch?
Es ist anzunehmen. Das Bündnis zwischen den Vereinigten Staaten und Israel ist für die antikolonialistische Linke ein rotes Tuch. Wie die iranischen Mullahs sagen würden: das Bündnis des grossen und des kleinen Satans. Seit dem Massaker der Hamas ist Israel die kriminelle Entität, und die Juden müssen den Preis für ihre Verbindung zu Israel bezahlen. So wie Juden in der Vergangenheit a priori schuldig waren und eine ontologische Schuld tragen mussten, ist Israel nun ebenfalls a priori schuldig und damit illegitim.
Die amerikanische Kongressabgeordnete Rashida Tlaib, eine Demokratin, bezeichnete Netanyahu als «Kriegsverbrecher», weil er Iran angreifen liess, und die israelische Regierung als «schurkisches Völkermordregime». Über das diktatorische Regime in Teheran verlor sie kein Wort. Wie verbreitet ist eine solche Haltung?
Die antikoloniale Linke betrachtet das iranische Regime des Ayatollah Khomeiny als Reaktion auf den amerikanischen Imperialismus, der diesem Regime vorausging. Der Schah, gegen den der islamistische Putsch gerichtet war, wird als blosse Marionette der Amerikaner wahrgenommen. Viele Menschen denken: Wenn du der Feind meines Feindes bist, bist du mein Freund. Aber der Feind deines Feindes kann auch dein Feind bleiben. Und er kann sogar zu einem noch schlimmeren Feind werden.
Der Terrorstaat wird verklärt?
Der Krieg in Gaza ist zur Metapher für das Böse in der Welt geworden. Wenn also Iran als Unterstützer der Palästinenser wahrgenommen wird, ist es fast gleichgültig, welcher Natur das iranische Regime ist. Iran hat 2024 allein 900 Menschen für harmlose Vergehen wie Drogenkonsum hingerichtet. Dieses Regime unterdrückt Frauen wie kaum ein anderes Regime. In gewisser Weise verdeutlicht die Reaktion der postkolonialen Linken auf Iran nur noch mehr, dass sie in einer Blindheit gefangen ist, an die sich die Geschichte erinnern wird.
Wie ist es zu dieser Verblendung gekommen?
Das iranische Regime entstand aus einer Mischung aus religiöser Doktrin und marxistischem Revolutionsgeist. Dadurch konnte es eine Verbindung zur Linken in der Welt herstellen. Iran ist seit vierzig Jahren ein Meister darin, einen verdeckten ideologischen Krieg zu führen. Es ist ihm gelungen, einen Teil der Weltöffentlichkeit über die kommunistische und antiimperialistische Linke zu beeinflussen. Das ist das Ergebnis einer erfolgreichen, aggressiven Propagandakampagne, die Israel als die einzige Quelle des Bösen in der Welt darstellt.
Die Universitäten Genf und Lausanne haben aufgrund des Krieges in Gaza ihre Partnerschaftsprogramme mit der Hebräischen Universität Jerusalem beendet. Sie haben lange in Jerusalem gelehrt. Wussten Sie davon?
Haben diese beiden Universitäten auch ihre Zusammenarbeit mit russischen oder chinesischen Forschern eingestellt? Wahrscheinlich nicht. Wie seltsam.
Sie klingen ratlos.
Es gibt eine lange Tradition des Boykotts der Juden, warum also nicht mit dieser Tradition gegen eine der kleinsten Minderheiten der Welt fortfahren?
Machen Sie als Israelin in Ihrem Forschungsumfeld ähnliche Erfahrungen?
An der École des hautes études, wo ich unterrichte, habe ich Feindseligkeit gespürt. Menschen, die glauben, dass sie gleichzeitig die empirische und die moralische Wahrheit besitzen, fühlen sich berechtigt dazu. Das tun sie besonders gern gegenüber denen, die eigentlich auch links sind, aber Linke wie sie infrage stellen. Viele Menschen unterstützen mich jedoch auch, nur sagen sie es nicht öffentlich. Man hat in der akademischen Welt Angst, sich zu äussern. Das ist beunruhigend. Ich werde bald zwei Bücher zu dem Thema veröffentlichen. Der Antisemitismus, und wie hartnäckig er sich hält, ist für Soziologen faszinierend.
Der Gaza-Krieg hat bisher viele zivile Opfer unter den Palästinensern gefordert. Die Hamas hält immer noch 56 israelische Geiseln fest. Selbst europäische Länder halten weniger mit Kritik an Israel zurück. Ist ein Wendepunkt erreicht, an dem Israel stärker zur Verantwortung gezogen wird?
Dieser Krieg muss auf das Schärfste verurteilt werden. Ich würde sogar noch weiter gehen: Es ist ein verbrecherischer Krieg, das Ausmass der Zerstörung ist unverzeihlich. Als Netanyahu im März den Waffenstillstand brach, konnte man sagen, dass mindestens die Hälfte der Hamas vernichtet war. Israel hatte sich eine gute Position gesichert: Syrien war stabil, der Hizbullah war geschwächt, ebenso die Hamas. Was genau konnte man also noch erreichen? Man kann die Hamas nicht zerstören, ohne die gesamte Bevölkerung zu vernichten. Einige israelische Politiker machen kein Hehl daraus, dass sie ethnische Säuberungen durchführen wollen.
Würden Sie von Genozid sprechen?
Auf keinen Fall. Dieser Begriff wird grob missbraucht. Man tut so, als gäbe es keine anderen schrecklichen Verbrechen, Kriegsverbrechen oder ethnischen Säuberungen auf der Welt. In der Demokratischen Republik Kongo werden Millionen von Menschen vertrieben und unzählige getötet. Doch niemand scheint sich dafür zu interessieren. Nur jüdische Kriege und Verbrechen beschäftigen die Europäer. Hier gibt es einen doppelten Rassismus: Das schreckliche Leid der Afrikaner wird ignoriert und die Grausamkeit der israelischen Juden übertrieben dargestellt.
Dies ändert nichts am Leid der palästinensischen Zivilbevölkerung.
Nein. Man sollte dennoch nicht vergessen: Die Hamas ist eine genozidale Gruppe, sie hat diesen Krieg begonnen. Sie will den Staat Israel und seine sieben Millionen Juden von der Landkarte tilgen. Letztlich führen Israeli oder Juden Kriege auf die gleiche Weise wie der Rest der Welt, nämlich als brutale, grausame Menschen.
Es gibt in diesem Konflikt ein ausgeprägtes Schwarz-Weiss-Denken. Warum ist es so schwierig, die Hamas zu verurteilen, die Israel zerstören will, und gleichzeitig zu verurteilen, was Israel in Gaza tut?
Viele Israeli tun beides. Sie verurteilen die unverhältnismässige Zahl der Todesopfer in Gaza, aber stehen auch für Israel ein. Dies hat zur Spaltung der Linken geführt, die heute viel tiefer ist als die zwischen Sozialdemokratie und Kommunismus. Anstatt gemeinsam für den Frieden zu kämpfen, hat die progressive Linke den Weg des Hasses gewählt und sich selbst diskreditiert. Das ist eine Tragödie.
Hat die Welt die verbleibenden israelischen Geiseln im Gazastreifen vergessen?
Die Welt? Das ist Netanyahus Verantwortung. Aber wir sollten aufhören, nach Schuldigen zu suchen, und einfach alles tun, um Frieden zu schaffen. Stoppt den Krieg, stoppt die Gewalt, denkt an den Tag danach, bringt die Diplomatie ins Spiel, holt die Geiseln zurück und neutralisiert die Hamas, indem ihr ihre Finanzquellen wie Katar austrocknet.
Ist das realistisch?
Katar und Iran sind grosse Geldgeber der Hamas. Jetzt, da das iranische Atomwaffenarsenal zumindest teilweise zerstört ist, sollten wir enormen Druck auf Katar ausüben. Die Ressourcen der Hamas müssen vollständig ausgetrocknet werden. Sie haben ihr Volk ausgeliefert, ohne mit der Wimper zu zucken.
Andererseits wächst in Gaza eine Generation heran, die Israel als Feind sieht, der Zerstörung, Leid und Tod bringt. Die Hamas kann solche Menschen voller Hass und Rachegefühle leicht für ihren Terror gewinnen. Ist dies zu befürchten?
Das Risiko besteht. Deshalb sollte man erstens einen Marshall-Plan erstellen, um den Palästinensern beim Wiederaufbau ihrer Gesellschaft zu helfen, sowohl in materieller, kultureller wie moralischer Hinsicht. Zweitens sollte so etwas wie ein Entnazifizierungsprozess durchgeführt werden, um den Antisemitismus auszumerzen, der diese Gesellschaft erfasst hat. Es braucht während zweier oder dreier Jahrzehnte eine Überwachung, um sicherzustellen, dass keine neuen Tunnel gebaut werden, kein neues militärisches Arsenal angehäuft wird und den Kindern kein Antisemitismus eingeimpft wird. Durch die Verbesserung ihrer Lebensbedingungen werden die Palästinenser davon abgehalten, Israel anzugreifen und zu terrorisieren.
Wegen des heftigen militärischen Konflikts mit Iran haben die Israeli gerade wieder zwei Wochen im Luftschutzraum verbracht. Wie erschöpft ist die israelische Gesellschaft?
Die Anschläge vom 7. Oktober, aber auch die Angriffe aus Gaza, Libanon, dem Westjordanland und Iran haben die innere Stabilität Israels untergraben und eine Auswanderungsbewegung ausgelöst. Netanyahu und seine rechts-religiöse Koalitionsregierung tragen dazu bei.
Mit welchen Folgen?
Viele israelische Bürger verlassen das Land. Damit reagieren sie in erster Linie auf den Justizputsch Netanyahus, seinen Versuch, die Unabhängigkeit der Justiz noch vor dem Krieg zu liquidieren. Auch säkulare Israeli verlieren die Bereitschaft, die nicht arbeitenden ultraorthodoxen Juden zu finanzieren, die nicht einmal Militärdienst leisten. Jetzt, wo es ein Kriegsgebiet mit vielen Schauplätzen und Fronten gibt, wird es für viele, insbesondere junge, qualifizierte und gebildete Israeli noch plausibler, sich anderswo ein neues Leben aufzubauen. Im Jahr 2024 sind 80 000 Israeli ausgewandert, fast doppelt so viele wie 2023.
Sie haben Israel auch verlassen. Ihre drei Söhne studieren im Ausland. Haben Sie noch Familie oder Freunde in Israel?
Ich habe Israel in keiner Weise verlassen. Im Moment bin ich in Paris, vielleicht gehe ich morgen zurück nach Tel Aviv. Ich habe dort enge Freunde. Alle in Israel hoffen, dass sich die Lage jetzt ändern könnte. Iran hat eine Schlinge, einen Feuerring um Israel gebaut. Die Bedrohung kam von allen Seiten. Jetzt können die Israeli ein wenig aufatmen. Sie befinden sich in einem seltsamen Moment zwischen völliger Verzweiflung und unglaublicher Hoffnung.
Eva Illouz ist Soziologin und lehrt an der École des hautes études in Paris. Zuletzt erschien ihr Buch «Explosive Moderne» (Suhrkamp-Verlag).