In linken Kreisen werden ethnische Merkmale zunehmend mit Qualifikation verwechselt.
Mandy Abou Shoak wollte Stadtpräsidentin von Zürich werden. Die SP-Delegierten nominierten sie nicht einmal für den Stadtrat. Sie entschieden sich für Erfahrung und Kompetenz. Abou Shoak steht erst am Anfang ihrer politischen Laufbahn. Aber sie hat etwas, was viele ihrer Parteigenossen nicht haben: eine Geschichte, einen Migrationshintergrund, den sie stets in den Vordergrund stellt und als politische Qualifikation versteht.
Dass sie nicht nominiert wurde, hat viele empört. In einem offenen Brief mit dem Titel «Es isch gnueg!» prangern Aktivisten die Schweizer Linksparteien an, in Grossbuchstaben. Die Nichtnomination sei symptomatisch für ein «strukturelles Problem»: Menschen mit Migrationshintergrund würden nur als Listenfüller missbraucht, echte Entscheidungsmacht bleibe ihnen verwehrt.
Als positives Gegenbeispiel führen die Verfasser den Wahlerfolg des sozialistischen Politikers Zohran Mamdani in New York an. Sie beschreiben ihn als «Kind ugandisch-indischer Geflüchteter». Der Appell fordert die linken Parteien ultimativ auf, ihre Machtstrukturen zu öffnen und Menschen «migrantischer Herkunft» proportional zu repräsentieren, da diese angeblich die «Mehrheit der Arbeiter und Arbeiterinnen» in der Schweiz stellten.
Das Ende der Staatsbürgerschaft
Die Verfasser sprechen von einer «rund 50 Prozent migrantisch geprägten Bevölkerung Zürichs». Sie klagen: «Wir sind für euch gut genug, um die Wahllisten bunter zu machen, aber wenn es um echte Entscheidungsmacht geht, bleibt der Zugang verwehrt.» Diese Formulierungen sind bereits der erste und entscheidende Denkfehler. Menschen, die eingebürgert sind, sind Schweizer Bürger, nicht «migrantisch geprägte» Schweizer zweiter Klasse.
Wer den Schweizer Pass besitzt, hat dieselben Rechte und Pflichten wie jeder andere Bürger auch. Seine biografische Herkunft ist eine Privatangelegenheit, und sie darf auch nicht zum politischen Kapital werden. Diese Denkweise stellt das Konzept der einheitlichen Staatsbürgerschaft infrage, das seit der Aufklärung als zivilisatorische Errungenschaft gilt. Statt Bürger entstehen wieder Untertanen verschiedener Kategorien, nur diesmal nicht ständisch, sondern ethnisch sortiert.
Besonders problematisch ist die implizite Annahme, dass Menschen nur von Vertretern ihrer eigenen Herkunft oder Identitätsgruppe angemessen repräsentiert werden können: Migranten nur von Migranten, Eidgenossen mit bis 1291 zurückreichendem Stammbaum in der Schweiz nur von Eidgenossen mit dem gleichen Stammbaum und Weisse nur von Weissen.
Diese Logik zerstört das universalistische Fundament der Demokratie. Unter dem Mantel der Vielfalt hat sich die Linke ursprünglich rechtes, völkisch gefärbtes Gedankengut zu eigen gemacht.
Jeder Gruppe ihre Stimme – ein vormodernes System
Demokratische Repräsentation funktioniert anders: Ein gewählter Vertreter repräsentiert alle Bürger seines Wahlkreises, unabhängig von deren Herkunft, Religion oder sonstigen Merkmalen. Diese Universalität ist kein Defizit, sondern die zentrale Stärke der modernen Demokratie. Sie ermöglicht es, über partikulare Interessen hinaus nach dem Gemeinwohl zu suchen.
Der Appell «Es isch gnueg!» fordert faktisch eine Quote basierend auf ethnischer Herkunft. Damit wird Herkunft zur primären Qualifikation erklärt – ein Prinzip, das der Leistungsgesellschaft diametral entgegensteht. Menschen mit Migrationshintergrund werden dadurch systematisch infantilisiert, als wären sie primär durch ihre Biografie definiert und nicht durch ihre Fähigkeiten, Überzeugungen und politischen Positionen.
Diese Haltung ist nicht nur unfair gegenüber allen, die sich durch Kompetenz und Engagement qualifizieren wollen. Sie schadet letztlich auch jenen, die sie zu begünstigen vorgibt, indem sie deren Erfolge dauerhaft unter Quotenverdacht stellt.
Die geforderte ethnische Gruppenrepräsentation erinnert an das osmanische Millet-System, das die Gesellschaft als Mosaik autonomer Religionsgemeinschaften organisierte. Griechisch-Orthodoxe, Armenier, Juden und andere Gruppen hatten dort ihre eigenen «Stimmen», Führungsstrukturen und spezifischen Privilegien. Jede Gemeinschaft verwaltete sich selbst und wurde durch ethnisch-religiöse Eliten repräsentiert.
Dieses System war vormodern und wurde nicht ohne Grund von den osmanischen Tanzimat-Reformen des 19. Jahrhunderts überwunden, die erstmals gleiche Staatsbürgerschaft unabhängig von religiöser oder ethnischer Zugehörigkeit einführten. Die Modernisierung des Osmanischen Reichs begann mit der Überwindung dieser korporativen Gruppenstrukturen.
Was wir im vorliegenden Appell erleben, ist eine Re-Feudalisierung der Gesellschaft: Statt gleichberechtigter Individuen entstehen wieder korporative Gruppen mit besonderen Ansprüchen und Privilegien. In urbanen linken Kreisen soll, wer keine Migrationsgeschichte vorweisen kann, diskriminiert werden, während jene mit entsprechender Biografie privilegiert gehören – egal ob sie begabt sind. Der Migrationshintergrund wird zum Migrationsfördergrund.
Der Weg in die Balkanisierung
Die Logik des Appells führt unweigerlich zur gesellschaftlichen Fragmentierung. Wenn jede Herkunftsgruppe proportionale Repräsentation beanspruchen kann, warum dann nicht auch andere Kategorien? Religiöse Gruppen, Altersgruppen, Geschlechtergruppen, Berufsgruppen, sexuelle Orientierungen . . . das Ende wäre eine völlig atomisierte Gesellschaft ohne gemeinsame politische Basis. Eine Gesellschaft, die sich nach ethnischen Linien organisiert, verliert ihre Fähigkeit zu gemeinsamen politischen Projekten. Sie wird zur Beute von Demagogen, die verschiedene Gruppen gegeneinander ausspielen.
Jean-Jacques Rousseau warnte bereits im 18. Jahrhundert vor der Zersplitterung des Gemeinwillens durch Partikularinteressen. Seiner Ansicht nach sollte die Politik das gemeinsame Interesse aller Bürger suchen, nicht die Befriedigung von Gruppeninteressen. Alexis de Tocqueville warnte vor der Tyrannei der Mehrheit in demokratischen Gesellschaften. Der migrantische Appell kehrt diese Warnung um: Er propagiert einen Anspruch von sich als Minderheiten definierenden Gruppen auf Machtbeteiligung, unabhängig von demokratischen Mehrheitsentscheidungen.
Eine lebendige Demokratie braucht keine ethnischen Quoten, sondern offene Diskurse und faire Chancen für alle Bürger. Wer politische Ämter anstrebt, soll sich durch Überzeugungskraft, inhaltliche Kompetenz und demokratisches Engagement qualifizieren – und nicht durch seinen Stammbaum oder seine Herkunftsgeschichte.