J. D. Vance ehrt Charlie Kirk als Heilsbringer. Und ruft zum Kampf gegen die Mächte auf, die Amerika bedrohen. Dahinter zeichnen sich die Umrisse von Peters Thiels Denken ab, das Endzeitvisionen auf seltsame Art mit Philosophie verbindet.
Am 10. September, kurz nach zwölf Uhr mittags, wurde Charlie Kirk in Utah erschossen. Wenige Stunden später wimmelte es in den sozialen Netzwerken von Posts, die nach den Hintergründen der Tat suchten. Die Polarisierung der Gesellschaft wurde genannt, der Feldzug der Linken gegen Amerika. Und erstaunlich viele fanden die Erklärung in der Bibel. Vom Bösen war die Rede, das immer unter uns sei. Vom Dämon, der sein grässliches Haupt schüttle. In verschiedenen Posts wurde Kirks Ermordung als Werk eines von Geistern Besessenen dargestellt. Und als Anzeichen dafür gedeutet, dass der Antichrist naht.
Vereinzelt beriefen sich rechte Influencer dabei auf Peter Thiel. Er warnt seit Jahren vor dem Antichrist: dem diabolischen Gegner von Jesus Christus aus dem Neuen Testament, der verführerische, aber falsche Lehren verbreitet, um die Menschheit in den Untergang zu reissen. Es mag erstaunlich klingen, dass sich ein Tech-Milliardär, Mitgründer von Paypal und Palantir, mit so entlegenen theologischen Spekulationen befasst. Thiel ist ein rationaler Mensch. Unternehmer und Investor mit Hochschulabschluss in Philosophie und Rechtswissenschaft. Ein Vordenker des Silicon Valley. Doch das Ende der Welt lässt ihn nicht los.
Als er 2021 mit dem Frank-Schirrmacher-Preis ausgezeichnet wurde, schloss Thiel seine Rede mit der Mahnung, es gelte, wachsam zu sein, um die Kräfte zu erkennen, die der Welt schaden wollten: «Neue Ideen sind gefährlich. Aber wir werden sie brauchen für unsere Rettung. Wir sollten auch nicht vergessen, dass die Parole des Antichrist Frieden und Sicherheit lautet. Und heute müssen wir eher den Antichrist fürchten als Armageddon.»
Armageddon, den endzeitlichen Kampf zwischen Gut und Böse, hält Thiel für weniger gefährlich als den Antichrist. Der Antichrist, das sind für Thiel die Kräfte, die das Böse leugnen, den Menschen vorgaukeln, es werde alles gut, und damit den Ernst der Lage verschleiern. Vor allem die Linke, die immer behaupte, es sei nicht so schlimm, und die Warnung der Rechten vor den Staatszerstörern als Verschwörungstheorie bezeichne. Gegen sie müsse man kämpfen, sagt Thiel. Er erklärt auch, wie. In San Francisco hält er diesen Monat eine vierteilige Vortragsreihe über den Antichrist. Für eine begrenzte Zahl von Gästen, auf Anmeldung und ausdrücklich «off the record».
Die allmächtige Diktatur
Zu den Lügen, mit denen der Antichrist lockt, gehört für Thiel ein allmächtiger linker Weltstaat, der eine von Krieg befreite Zukunft verspricht. Thiel spricht von einer «Wohlfahrtsdiktatur mit allmächtiger Überwachungstechnologie» und benennt konkret Institutionen, die er als Vorstufe dazu sieht: die Uno, die WHO, die WTO und die EU. Der Kampf gegen sie sei hart, räumt Thiel ein. Aber nicht aussichtslos, denn es gebe Hilfe. Auch dafür beruft er sich auf ein theologisches Konzept. Auf den «Katechon», den «Aufhalter», den der Apostel Paulus als Gestalt nennt, die sich dem Antichrist entgegenstellt und ihn daran hindert, sein Werk zu vollenden.
Lässt man die theologische Terminologie weg, ergibt sich daraus zumindest ein Teil von Donald Trumps aussenpolitischem Programm: die Skepsis gegenüber internationalen Organisationen, die Vorstellung, sich im Kampf gegen dunkle Mächte zu befinden, die das Ziel haben, Amerika zu schaden, und die Überzeugung, es sei Aufgabe eines «starken Mannes», den Knoten zu durchschlagen und die Probleme zu lösen.
Thiel gehört zu den frühesten Unterstützern von Donald Trump. J. D. Vance gilt als sein Protégé. Ein Referat, das Thiel an der Yale University hielt, bezeichnet Vance als eines der wichtigsten Erlebnisse seiner Studienzeit. Mit seiner Kritik am Mitläufertum der Menschen habe Thiel ihm die Augen geöffnet für die wichtigen Werte im Leben. Thiel tat mehr als das. Er zahlte auch fünfzehn Millionen Dollar in die Wahlkampfkasse von Vance. Das beschleunigte dessen Karriere: Vance wandelte sich vom Kritiker zum Anhänger Trumps, wurde Senator von Ohio und schliesslich Vizepräsident.
Thiel munitionierte Vance nicht nur finanziell auf, sondern auch ideologisch. 2022 sagte Vance, es sei an der Zeit, die amerikanische Führungsschicht zu ersetzen, sie herauszureissen «wie einen Tumor». Damit bewegte er sich auf Pfaden, die Thiel gedanklich vorgespurt hatte: Amerika muss befreit werden von den Lasten, die das Land hindern, zur alten Grösse zurückzukehren. Mit neuen Köpfen. Und notfalls ohne Rücksicht auf demokratische Regeln. Denn Demokratie hält Thiel für eine schwache Staatsform: zu langsam, zu umständlich. Und vor allem nicht vereinbar mit Freiheit, so wie er sie versteht: Wenn alle mitreden, führt das seiner Ansicht nach zwangsläufig zu einer Überregulierung, die das Unternehmertum behindert.
Kampf ums Überleben
Thiel schwebt eine Welt vor, die von Unternehmern geführt wird. Männern, die Entscheidungen treffen, Risiken auf sich nehmen und sich auch von Gesetzen nicht bremsen lassen. Das erinnert an Trumps Verständnis von Politik als «art of the deal». Aber es geht weit darüber hinaus. Mit seiner Verachtung der Demokratie schliesst Thiel an einen seiner intellektuellen Leitsterne an. Den Philosophen Leo Strauss aus der Zeit der Weimarer Republik. Einen Verächter der Aufklärung, der den demokratischen Liberalismus für einen Sündenfall der Politik hielt und bei den Gurus aus dem Silicon Valley ausserordentlich beliebt ist.
2007 publizierte Thiel einen grossen Essay «The Straussian Moment», in dem er die Grundzüge einer neuen Weltordnung skizziert, die nach 9/11 entstehen soll. Er schwört die USA und Europa auf einen Kampf gegen den Islam ein, den der Westen nur gewinnen könne, wenn er sich bewusst sei, dass es ein Kampf um Untergang oder Überleben sei. Und wenn er wisse, wofür er kämpfe.
Thiel verbindet das mit einem Menschenbild, das sich an Ideen des französischen Kulturanthropologen René Girard orientiert. Thiel hat an der Eliteuniversität Stanford Philosophie studiert, wo Girard lange lehrte. Thiel lernte ihn dort kennen und sog Girards Denken auf, das nicht die Vernunft als zentralen Beweggrund für das Handeln des Menschen versteht, sondern das Begehren. Aber nicht ein eigenständiges, sondern ein «mimetisches Begehren», das sich auf Objekte richtet, die von anderen begehrt werden. Wir begehren sie, weil andere sie auch begehren, sagt Girard. Wir wollen nicht einzigartig sein, sondern ahmen andere nach und imitieren ihre Wünsche. Das führt unweigerlich zu Konflikten. Sie bestimmen den Lauf der Welt. Und enden im schlimmsten Fall tödlich.
Für Thiel liegt die Lösung darin, dass die Menschen ihren Hang zur Nachahmung überwinden. Wenn alle immer das wollen, was andere wollen, gibt es keine Innovation. Darin liegt für Thiel das Problem der Universitäten. Für ihn sind sie Institutionen der Gleichschaltung, die Eigensinn und Originalität verhindern. Er hat ein Stipendium für Studienabbrecher gestiftet, um Menschen zu fördern, die gegen den Mainstream denken. Selbst versteht er sich als «contrarian», der die Dinge konsequent gegen den Strich betrachtet. Junge Leute, die sich bei ihm bewerben, fragt er oft, ob es eine Überzeugung gebe, die sie für wahr hielten – und die niemand sonst mit ihnen teile.
Die Menschheit retten?
Thiel ist nicht der Einzige der Silicon-Valley-Elite, der sein Handeln aus dem Widerspruch gegen das Bestehende entwickelt. Und nicht der Einzige, der sein Denken philosophisch zu rechtfertigen versteht: Der Palantir-CEO Alexander Karp studierte in Frankfurt Philosophie und promovierte bei Jürgen Habermas, der Blogger und Software-Unternehmer Curtis Yarvin bekehrte sich unter dem Einfluss des libertären Habermas-Schülers Hans-Hermann Hoppe zum radikalen Demokratiekritiker. Aber Thiel ist der Intellektuelle, der im Weissen Haus zurzeit wohl am meisten Einfluss hat.
In der Gedenksendung für Charlie Kirk ehrte Vance den Maga-Aktivisten als Heilsbringer, der «gekreuzigt wurde und den Tod erlitten» habe. Um dann zum Kampf gegen die Mächte aufzurufen, die Amerika bedrohen. Dahinter zeichneten sich klar die Umrisse von Peters Thiels Denken ab, das Endzeitvisionen auf seltsame Weise mit kritischer Philosophie verbindet. Und das Ganze mit der Erwartung zusammenbringt, der technologische Fortschritt werde alle Probleme der Welt lösen.
Das allerdings sieht er infrage gestellt. Denn der Fortschritt habe sich verlangsamt. Von der digitalen Welt abgesehen, sieht Thiel technologischen Stillstand. Seit den siebziger Jahren. Die Versprechungen der Tech-Gurus hätten sich nicht bewahrheitet, die Hoffnung auf allgemeinen Wohlstand ebenso wenig. Das hält er für gefährlich, weil es zu Verteilungskämpfen um die knappen Güter führe. Schuld daran ist seiner Ansicht nach die woke internationale Elite, die den Fortschritt bremse. Aus Angst vor einer Klimakatastrophe oder entfesselter KI.
Ohne Mut zu mehr Risiko lässt sich der Wettlauf gegen die finstern Mächte nicht gewinnen, davon ist Thiel überzeugt. Und mit demokratischen Mitteln auch nicht. Trumps Angriffe auf die Gewaltenteilung sind für ihn nicht gefährlich, sondern dringend nötig. Schliesslich geht es darum, die Menschheit zu retten. Oder vielleicht doch nicht? Als ihn der «New York Times»-Kolumnist Ross Douthat kürzlich in einem Interview fragte, ob es sein Ziel sei, dass die Menschheit überlebe, zögerte Peter Thiel mit der Antwort. Lange. Der Interviewer fragte nach. Thiel setzte mehrmals an, geriet ins Stottern. Eine klare Antwort gab er nicht. Nur dies sagte er: Es gebe viele offene Fragen.








