Das komplizierte deutsche Wahlrecht führt dazu, dass aus westlichen Bundesländern drei Abgeordnete einziehen, weil drei Berliner ausscheiden, und dass eine AfD-Kandidatin trotz Untersuchungshaft kandidiert.
Fast 29 Monate nach der Bundestagswahl 2021 ist nun auch in Berlin die demokratische Ordnung wiederhergestellt. Zwar sind prozentual weniger Berliner am Sonntag wählen gegangen als jemals seit dem Mauerfall, und es waren auch nicht dieselben Wähler – es gab in der Zwischenzeit Zu- und Wegzüge, Personen wurden 18, andere starben –, aber dem Gesetz ist Genüge getan. Ungerechtigkeiten sind unvermeidlich; so haben Zugezogene nun zweimal den Bundestag mitgewählt, Fortgezogene keinmal. Der Wählerpool ähnelt insoweit dem sprichwörtlichen Fluss, in den man nicht zweimal steigt.
Berlins christlichdemokratischer Regierender Bürgermeister Kai Wegner bezeichnete das Wahlergebnis – gestärkte CDU, wesentlich gestärkte AfD, geschwächte SPD – am Montag im Fernsehen als «Stoppsignal an die ‹Ampel›» und ordnete die Wahl als eine Art grosse Umfrage ein, als Stimmungstest.
Gut eine halbe Million Berliner durften wählen gehen, weniger als ein Prozent aller Wahlberechtigten in Deutschland. Die ausgelösten Verschiebungen sind dementsprechend gering, dennoch lassen sie sich nicht als unbedeutend abtun.
Dies zum einen, weil die Oppositionsparteien CDU und AfD Zuwächse verzeichneten. Wahlen sind auch Momentaufnahmen der politischen Stimmung. Seit der letzten Bundestagswahl hat sich diese Stimmung verändert: Deutschlands Mangelzustände sind auf vielen Gebieten offenbar geworden, die Migrationskrise hat sich verschärft, die Wirtschaft leidet, die Digitalisierung kommt nicht voran und am gravierendsten: Das Land könnte sich im Ernstfall nicht verteidigen. Der europaweit zu beobachtende Rechtsruck könnte auch Deutschland erfasst haben. Am 9. Juni weiss man mehr. Dann steht die Wahl zum EU-Parlament an.
Zum anderen stehen im September drei Landtagswahlen im Osten an, in Brandenburg, Sachsen und Thüringen. Speziell im Osten ist die AfD stark, die vielen Demonstrationen «gegen rechts» in ganz Deutschland haben der Partei womöglich doch nicht geschadet. Auch im östlichen Berliner Bezirk Marzahn-Hellersdorf wurde die AfD gestärkt, Demos hin oder her. Es gilt ohnehin der Grundsatz der geheimen Wahl – wo das Kreuzchen gesetzt wird, sieht niemand.
Komplikationen des deutschen Wahlrechts
Das komplizierte deutsche Wahlrecht bringt kuriose Weiterungen mit sich. Auch wenn bundesweit nur knapp ein Prozent der Stimmen für ungültig erklärt wurden, musste die ganze Zusammensetzung des Bundestages neu berechnet werden. Aufgrund der niedrigen Wählerbeteiligung in den betroffenen Wahlbezirken von 51 Prozent verlor das Land Berlin vier Mandate und ist künftig nur noch mit 25 Politikern im Bundestag vertreten.
Drei Berliner Abgeordnete – je einer von SPD, Linken und Grünen – werden nun durch Parteifreunde aus Niedersachsen, Hessen und Nordrhein-Westfalen beerbt, das vierte Mandat (FDP) entfällt ersatzlos. Ob das deutsche Wahlrecht hinreichend verständlich ist, um dem Gebot der Normenklarheit zu entsprechen, ist selbst innerhalb des Bundesverfassungsgerichts umstritten. An sich gilt der Grundsatz, dass der Bürger den Vorgang des Wählens problemlos verstehen können soll.
Zu den Vorschriften gehörte auch, dass die Kandidatenlisten unverändert sein mussten. Es durften also nur Personen zur Wahl antreten, die schon 2021 kandidiert hatten. So kam es zu Kuriositäten wie jener, dass die suspendierte Richterin Birgit Malsack-Winkemann, die derzeit in Untersuchungshaft sitzt, als AfD-Direktkandidatin Stimmengewinne einfahren konnte.
Eine weitere Lehre aus dem Berliner Wahldebakel ist daher ganz schlicht: Solche Pannen, wie es sie am Wahltag 2021 in Berlin gab, dürfen nicht passieren, wenn man es mit der Demokratie ernst meint.