Ein Morgen in einem ungewöhnlichen Sozialprojekt.
Wer in Zürich auf der Durchreise ist und seine Kleidung waschen will, dürfte überrascht sein. Denn das Konzept des Waschsalons, das in grossen europäischen Städten für viele Menschen zum Alltag gehört, ist hier praktisch inexistent.
Nur ein paar wenige Treffer ergibt die Onlinesuche nach einem Waschsalon in Zürich. Ein Salon liegt in der Altstadt an der Häringstrasse, in der Touristenhochburg Niederdorf. Und gerade da kostet ein Waschgang nur fünf Franken?
Beim Betreten des kleinen Lokals, das mit seinen rosa Plättli, dem neonfarbenen Schriftzug und den farbigen Socken an der Wand wie ein Concept-Store daherkommt, mögen die Touristen auch erstaunt sein, dass da nur zwei Waschmaschinen stehen. Dann setzen sie sich mit dem Kaffee, der nur einen Franken kostet, in einen der Sessel im Eingangsbereich. Und irgendwann wird beim Warten auf die Wäsche klar: Dies hier ist ein Sozialprojekt.
Ungefähr so beschreibt Michael Wilke das Aufeinandertreffen von Touristen und Obdachlosen im Waschsalon Niederdorf. Nur spricht der Geschäftsführer der Stiftung der evangelischen Gesellschaft des Kantons Zürich, die den Salon betreibt, nicht von Obdachlosen und auch nicht von einem Sozialprojekt. «Ich sehe es vielmehr als Dienstleistung, die bezahlt wird», sagt Wilke und erklärt dann, dass es bei dem Angebot um zwei Dinge gehe.
Die Stiftung, die auch andere soziale Einrichtungen in der Stadt betreibt, wollte Menschen in schwierigen Situationen einen Ort bieten, wo sie günstig waschen können. Das habe in Zürich gefehlt. Gleichzeitig sollte der Salon zu einem Ort werden, an dem Menschen mit und ohne Wohnung aufeinandertreffen.
Kann das funktionieren?
Ariane Fischer, die an diesem Morgen am Empfang steht und die Kunden betreut, zeigt die Buchungen in der Agenda. Die Hälfte der vereinbarten Termine von letzter Woche sind orange markiert: Das waren Touristen, die hier gewaschen haben.
«Manche Kunden sind schon etwas skeptisch und fragen, was das sei», sagt sie. Doch das komme vor allem bei Einheimischen vor. Denn viele Touristen seien dieses Nebeneinander aus ihrem Herkunftsland gewohnt: dass man im öffentlichen Waschsalon auf Menschen aus verschiedensten Schichten treffe.
Mit Wohnung und doch ohne
Noch ist es an diesem Morgen ruhig im Salon. In den Sesseln am Fenster unterhalten sich zwei junge Männer auf Englisch. Einer, frisch rasiert, gut gekleidet, hat seinen Hund dabei, der andere mit Bart und vernarbtem Gesicht unter der schwarzen Mütze streichelt den Hund, lacht.
Kurz nach 10 Uhr betritt ein älterer Herr mit schwarzer Sporttasche das Geschäft. Er hat einen Waschtermin vereinbart, bezahlt zehn Franken statt fünf, damit jemand anders umsonst waschen kann, und erklärt dann, dass er hier in Zürich keinen Ort zum Waschen habe.
«Willst du hier warten und die Wäsche selbst in den Tumbler umfüllen? Oder soll ich wechseln, und du kommst in zwei Stunden wieder?», fragt Ariane Fischer. In zwei Stunden komme er wieder, sagt der Mann. Mehr muss die ausgebildete Sozialarbeiterin nicht wissen.
Im Mai 2021 startete das Pilotprojekt mit zwei Waschmaschinen und Trocknern, einer Computerecke für Bewerbungen und die Wohnungssuche und einer Kaffeemaschine. Nach einem Jahr wurde zusätzlich eine Dusche eingebaut und vor kurzem Schliessfächer, die monatsweise für einen Franken gemietet werden können.
Auch das habe in der Stadt gefehlt, sagt Wilke: ein Angebot, damit man sein ganzes Hab und Gut nicht ständig auf sich tragen müsse. Duschmöglichkeiten gebe es in anderen Institutionen wie dem Pfuusbus zwar. Nur habe man nirgendwo eine halbe Stunde für sich allein in einer abschliessbaren Dusche mit Pflegeprodukten und Handtuch – für einen Franken.
«Habt ihr vielleicht ein Ladegerät?», fragt der junge Hundebesitzer am Empfang. Er war gestern zum Duschen hier, morgen hat er wieder einen Termin. Er habe eine Wohnung, sagt der Mann. Nur könne er im Moment nicht dorthin, weil ihm die Mitbewohnerin den Untermietvertrag gekündigt habe.
Der andere junge Mann, der sich vorher mit ihm unterhielt, erzählt draussen bei einer Zigarette, dass er jeden Morgen hierherkomme. Er trinke einen Kaffee, bevor das Café Yucca im Haus nebenan öffne. Dort ist der Kaffee an der Wärme gratis.
Der Mann, der sich als Ruprecht vorstellt, ist 32, kommt aus Rumänien und ist seit einem Monat in Zürich, um einen Job zu finden. Er erzählt von der Schwierigkeit, ohne Papiere eine Arbeit zu finden, und von der Polizei, die ihn ständig kontrolliere.
Hier gibt es nichts gratis – das gehört zum Konzept
Termine zum Duschen gibt es nur dann, wenn zwei Personen im Waschsalon arbeiten. Denn die Dusche zu reinigen und den vorderen Raum unbetreut zu lassen, sei zu unsicher, sagt Fischer. «Hier kann es auch einmal eskalieren, wenn jemand einen psychotischen Schub hat oder aggressiv wird.» Beim Umbau habe sie auf dem Empfangstresen bestanden, durch den sie klar abgegrenzt sei. Und in der Schublade ist ein Notfallknopf, mit dem direkt die Polizei alarmiert werden kann.
Dass es hier nichts gratis gebe, sei wichtig, sagt Fischer. Selbst die gespendeten farbigen Socken an der Wand kosten einen symbolischen Betrag. Und wenn Touristen die hippen Socken kaufen wollen, die anderswo ziemlich teuer sind? Dann können sie das.
Auch die zehnköpfige Band aus England, die einen Monat im Voraus eine Waschmaschine buchte, war wohl froh um die günstige Waschgelegenheit. Und der Besitzer des Bordells gegenüber? Der brachte die Vorhänge eben zusammen mit einer grossen Spende.
Nach 11 Uhr geht die Türe zum Waschsalon häufiger auf, zwei Personen bestellen Kaffee, eine will duschen. «Heute ist Donnerstag? Ach du Scheisse!», sagt ein Mann nur und kehrt mit seiner Sporttasche gleich wieder um.
Dann tauchen ein Mitarbeiter und ein Techniker auf, die zuvor im Besprechungszimmer waren. Die Waschprogramme werden noch einmal angepasst, der Mitarbeiter weiss jetzt besser Bescheid über die verschiedenen Stufen von Bakterien und Viren. Menschen ohne Wohnung hätten manchmal sogar ein stärkeres Bewusstsein für Hygiene, erklärt er. Weil sie mit Dreck umgehen müssen. Oder mit Blut.
Als beide Maschinen laufen, kommt ein Mann herein und erklärt auf Englisch, dass er seinen Ausweis verloren habe. Er brauche Geld, um den Ausweis in der bulgarischen Botschaft in Bern wieder zu erhalten. Doch hier gebe es kein Geld, stellen Fischer und Wilke klar. «Wir geben saubere Wäsche», sagt Wilke auf Englisch.
Ruprecht, der den Mann begleitet hat, wird laut. Obdachlosigkeit sei wie eine Decke, die sich über einen lege. Er erklärt, dass er früher Designerkleidung von Alexander McQueen getragen habe und sein Rucksack voller Business-Karten sei. Fischer nimmt eine Liste hervor mit Institutionen, die weiterhelfen können. Aber die beiden kennen sie schon alle, bedanken sich und gehen zurück ins Café Yucca.
Eine Stelle gefunden, aber noch kein Zuhause
Auch wer erst seit ein paar Tagen in Zürich auf der Strasse ist, weiss sofort Bescheid, welche Angebote es in der Stadt gibt. Das wird im Raum mit den Schliessfächern klar. Zwei junge Männer, einer aus Italien, der andere aus Österreich, holen ihre Taschen aus dem geteilten Schliessfach. Sie haben sich in der Anlaufstelle Brot-Egge des Sozialwerks Pfarrer Sieber kennengelernt, wo sie momentan übernachten.
Beide sind erst vor ein paar Tagen nach Zürich gekommen, um einen Job zu suchen. Beide sind froh, dass sie hier duschen und ihre Bewerbungsdokumente und Taschen deponieren können. «In unserer Situation ist das hier wie eine Oase, ein halbes Zuhause», sagt einer von ihnen, der als gelernter Elektriker bereits eine Stelle, aber noch kein Zuhause gefunden hat.
Während der erste Kunde seine trockene Wäsche wieder in die Sporttasche packt, schnappt sich ein Mann mit kariertem Hemd, dunkelblauem Pullover und neuen Trekkingschuhen eine kleine Leiter, um an sein Fach zu kommen. «Ich habe zu den Gutverdienenden gehört», sagt er und beginnt dann zu erzählen: wie er als Fleischhändler zu viel Fleisch ass, sich zu wenig bewegte, krank wurde und sein Geschäft aufgeben musste.
Vor einem Monat fuhr er mit dem Camper 900 Kilometer nach Süden in die Schweiz, weil er als Vater von zwei Kindern nicht vom Mindestlohn in Deutschland leben wollte. Der Camper musste zurück, er übernachtete in sozialen Einrichtungen und duschte mit 1200 Franken auf dem Twint-Account erst im Fitnesscenter.
Jetzt duscht er hier, er hat noch 90 Franken auf dem Account und hat die ersten drei Nächte draussen verbracht. Er kann noch immer nicht glauben, was gerade mit ihm passiert, und erzählt von der Angst, dass ihm im Schlafsack etwas passieren könnte. Wie er die Raten für sein Haus in Deutschland bezahlen will, weiss er noch nicht. Seine Frau habe noch etwas Bargeld, sagt der Mann. Und seine Kinder? «Die warten zu Hause auf meinen Erfolg.»
Dann packt er seine Sachen und macht sich davon. Immerhin ohne sein Gepäck, die Schlafsäcke und Decken, die er bis vor zwei Tagen ständig mit sich herumgetragen hat.