Auch der neue polnische Regierungschef Donald Tusk hat Olaf Scholz an die deutsche Schuld im Hinblick auf den Nazi-Terror im Zweiten Weltkrieg erinnert. Doch er setzt auf eine andere Strategie als sein nationalistischer Vorgänger.
Jahrelang hat der Streit um Reparationszahlungen für die Greueltaten im Zweiten Weltkrieg die Beziehung zwischen Deutschland und Polen vergiftet. Auf die Forderungen der rechtskonservativen ehemaligen Regierungspartei in Warschau von umgerechnet fast 1370 Milliarden Franken reagierte Berlin kühl-ablehnend – der irrational wirkende Nationalismus im Nachbarland erleichterte diese Haltung. Doch nun zeigt sich: Die Frage ist unter dem neuen proeuropäischen Regierungschef Donald Tusk, der um gute Beziehungen zu Berlin bemüht ist, nicht einfach vom Tisch.
Er wolle in die Zukunft schauen und das Thema sicher nicht aggressiv angehen, meinte Tusk am Montag zwar beim Treffen mit seinem Amtskollegen Olaf Scholz. Formal, rechtlich und international sei die Frage der Reparationen seit vielen Jahren abgeschlossen. «Aber Deutschland hat hier noch etwas zu tun.» Laut dem polnischen Regierungschef ist es eine Frage der historischen Gerechtigkeit, dass Berlin Rechnungen begleicht – «moralisch, finanziell und materiell».
Gefühl der Ungerechtigkeit in Polen
Donald Tusk bewegt sich bei diesem emotionalen Streit in einem engen Korsett. Der erfahrene Berufspolitiker weiss, dass Polen wenig tun kann, um Deutschland zu Reparationen zu zwingen: Zwar ist unbestritten, dass die Besatzer im Zweiten Weltkrieg ein Terrorregime errichteten, 6 Millionen Polen umbrachten und gigantische Zerstörungen anrichteten. Doch 1953 und 1990 verzichtete die Volksrepublik offiziell auf Entschädigungen. Ausserdem leistete die Bundesrepublik verschiedentlich freiwillig Zahlungen an polnische Opfergruppen in der Höhe von umgerechnet mehreren Milliarden Franken.
Dies genügt in der Wahrnehmung breiter polnischer Bevölkerungsschichten nicht. Der Hauptgrund dafür liegt darin, dass das Land jahrzehntelang unter sowjetischer Besatzung stand. Der Verzicht auf Reparationen war dem Druck aus Moskau geschuldet. Die Sowjetunion entschädigte Polen zwar teilweise, nicht zuletzt durch die Westverschiebung der Grenzen. Mitzureden hatte Warschau aber wenig.
Dazu kommt das Gefühl, dass die eigenen Opfer international zu wenig anerkannt werden. Aussenminister Radoslaw Sikorski, ein erfahrener Pragmatiker, brachte dies jüngst auf den Punkt: «Die Deutschen haben ein löchriges Gedächtnis», sagte er dem «Spiegel» in einem Interview. «Sie wissen um den Holocaust, erinnern sich an die Blockade Leningrads und Stalingrads. Aber sie haben vergessen, was sie der polnischen Zivilbevölkerung angetan haben.»
Weil Tusk in seinen früheren Ämtern als Regierungschef und EU-Ratspräsident ein enges Verhältnis mit Berlin gepflegt hatte, muss er aus innenpolitischen Gründen den Eindruck zu grosser Nachgiebigkeit vermeiden. Er kann die Reparationsfrage nicht still beerdigen. Dies wäre allerdings auch in den eigenen Reihen nicht mehrheitsfähig: 2022 stimmte das polnische Unterhaus praktisch geschlossen für eine Resolution, die Deutschland zu Wiedergutmachungen für die Folgen des Zweiten Weltkriegs aufforderte.
«Polen-Denkmal» und Sicherheitspolitik
Innerhalb dieser innen- und aussenpolitischen Rahmenbedingungen eine Lösung für die Reparationsfrage zu finden, gleicht durchaus der Quadratur des Kreises: Warschau will die Beziehungen zu Berlin verbessern und gleichzeitig den Eindruck vermeiden, man nehme das Thema auf die leichte Schulter.
Sikorski beharrt im Interview nicht auf der Summe von 1370 Milliarden. Gleichzeitig fordert er Deutschland dazu auf, «kreativ» an das Thema heranzugehen. Der Aussenminister will ein «sichtbares Zeichen», etwa ein Erinnerungs- und Dokumentationszentrum. Diesbezügliche Pläne für ein «Polen-Denkmal» in Berlin gibt es seit Jahren, mit Unterstützung des Bundestags und der Regierung. Die Wahrscheinlichkeit, dass Warschau mitzieht, ist mit dem Machtwechsel gestiegen.
Sowohl Sikorski als auch Tusk verbinden die Vergangenheitsaufarbeitung aber auch mit der gegenwärtigen geopolitischen Bedrohung durch Russland. Berlin solle in die Verteidigungsfähigkeit der beiden Länder investieren, fordern sie. Die Frage der Reparationen, so Tusk, solle keine Ressentiments bedienen, «sondern eine Idee werden für eine weitere sicherheitspolitische Zusammenarbeit, die beiden Nationen zugutekommt».