Gemessen am Wirtschaftswachstum dürfte Deutschland auch dieses Jahr die rote Laterne unter den grossen Industrieländern tragen. Nötig wäre eine breit angelegte «Agenda 2030» – doch der Kanzler schweigt.
Sie lesen einen Auszug aus dem werktäglichen Newsletter «Der andere Blick», heute von René Höltschi, Wirtschaftskorrespondent der NZZ in Berlin. Abonnieren Sie den Newsletter kostenlos. Nicht in Deutschland wohnhaft? Hier profitieren.
Nun ist amtlich: Im Jahreswirtschaftsbericht, den der grüne Wirtschaftsminister Robert Habeck nächste Woche vorstellen will, wird die Regierung ihre Prognose für das diesjährige Wirtschaftswachstum in Deutschland von bisher 1,3 Prozent auf 0,2 Prozent zurücknehmen. So wie 2023, als das Bruttoinlandprodukt um 0,3 Prozent geschrumpft ist, dürfte der wichtigste Handelspartner der Schweiz damit unter den grossen Industriestaaten die rote Laterne tragen. «Dramatisch schlecht» sei die Wirtschaftslage, sagte Habeck dazu, «nachgerade peinlich» findet es der liberale Finanzminister Christian Lindner.
Einig in der Diagnose
Damit ist Realismus eingekehrt in der Ampelregierung. Die Prognose entspricht etwa den Erwartungen von Wirtschaftsforschern und internationalen Gremien. Natürlich ist für die konjunkturelle Lage nicht allein die Regierung verantwortlich. Doch die Diagnose, dass es an internationaler Wettbewerbsfähigkeit fehle, dass die Unternehmen zu entlasten seien und dass mehr investiert werden müsse, teilen Habeck und Lindner mit dem konservativen Oppositionsführer Friedrich Merz.
Eine richtige Diagnose ist der erste Schritt zur Genesung. Sie bleibt aber wirkungslos, folgt nicht die richtige Therapie. Über Letztere aber klaffen die Vorstellungen von Habeck und Lindner weit auseinander – und vom sozialdemokratischen Bundeskanzler Olaf Scholz hört man wie immer wenig.
Zerstritten über die Therapie
Der grüne Wirtschaftsminister steht für eine Wirtschafts- und Industriepolitik, die mit Ordnungsrecht und Subventionen lenkend eingreift. Die Schuldenbremse, die die Neuverschuldung eng begrenzt, empfindet er ähnlich wie die SPD als zu enges Korsett. Er will mit einem «Sondervermögen» Steuervergünstigungen und bessere Abschreibungsmöglichkeiten für Unternehmen finanzieren. Sondervermögen aber heisst, Geld für Schulden an der Schuldenbremse vorbei aufzunehmen.
Lindner lehnt dies ab – zu Recht. Die moderate Verschuldung ist eine der verbliebenen Stärken Deutschlands. Es wäre töricht, diesen Vorteil aufzugeben. Die Zinskosten würden steigen, der Staat würde finanziellen Spielraum für eine nächste echte Krise einbüssen, und künftige Generationen würden belastet.
Deutschland hat in der Ära Merkel lange von sprudelnden Steuereinnahmen und rekordtiefen Zinsen profitiert. Das ist vorerst vorbei. Die «Ampel» hat sich mit finanzpolitischen Tricks an dieser neuen Realität vorbeigemogelt, bis das Bundesverfassungsgericht im November die Schuldenbremse scharf gestellt hat. Nun muss die Regierung zugleich mit knapperen Finanzen auskommen und die Versäumnisse ihrer schwarz-roten Vorgänger aufarbeiten, von der vernachlässigten Bundeswehr bis zur verlotterten Bahn.
Dringender Kurswechsel
Lindner fordert hierzu eine «Wirtschaftswende», als Stichworte nennt er Bürokratieabbau, mehr Flexibilität am Arbeitsmarkt, eine Unternehmenssteuerreform und «ein Klimagesetz, das die planwirtschaftlichen Vorhaben überwindet». Er nimmt damit Klagen der Wirtschaftsverbände auf und ist inhaltlich näher am Zehn-Punkte-Plan von Merz zur Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit als an Habecks Sondervermögen. Allerdings fehlen konkrete Finanzierungsvorschläge.
Doch in der Tendenz liegen Lindner und Merz richtig: Nötig wäre ein Gesamtpaket, eine «Agenda 2030», die die Richtung zeigt und die Wirtschaft entfesselt. Erste Pflöcke einschlagen könnte der Staatshaushalt 2025, indem er mutig priorisiert: mehr Investitionen in die marode Infrastruktur und die Verteidigung, weniger Giesskanne und Komplexität in der Sozialpolitik, Entlastung aller Unternehmen durch die Steuerpolitik statt Förderung einzelner durch Subventionen.
Dass die Koalition, die 2022 die Energiekrise bekämpfen musste und das Jahr 2023 mit Streit vertrödelt hat, ausgerechnet im Wahljahr 2025 solch unbeliebte Entscheide umsetzt, ist indessen wenig wahrscheinlich. Damit werden sie die erste Aufgabe jeder nächsten Regierung sein. Zumindest, wenn diese die rote Laterne loswerden will.
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