Hoffnungsvolle Athletinnen sollen nicht mehr mit 14 nach Magglingen ziehen, sondern erst im Erwachsenenalter: So sollen Verletzungen und der vorzeitige Abbruch von Karrieren vermieden werden.
Es gab Zeiten, in denen die weltbesten Turnerinnen erwachsen waren. Als Frauen 1952 im Turnen erstmals an Olympischen Spielen teilnahmen, galt das noch als selbstverständlich. Im Einzelmehrkampf triumphierte an der Premiere Marija Gorochowskaja aus der Sowjetunion, sie war 30 Jahre und 266 Tage alt. An den vier folgenden Sommerspielen waren die Siegerinnen in jenem Wettkampf 21, 25, 22 und 26. Niemand dachte damals, Kinder seien Frauen überlegen.
Der Jugendwahn begann, als im Kalten Krieg die Rivalität auch im Sport schärfer wurde, und zwar zunächst im kapitalistischen Westen. Das belegt die frühere Turnerin Georgia Cervin in ihrem Buch «Degrees of Difficulty: How Women’s Gymnastics Rose to Prominence and Fell from Grace». Die kommunistischen Gegner reagierten auf den Trend – und perfektionierten ihn schneller (siehe Grafik). 1976 gewann die Rumänin Nadia Comaneci Olympiagold, gerade einmal 14-jährig. Anschliessend gab es kein Zurück mehr.
Vorbild Mujinga Kambundji: Schnell mit Ende 20
Auch in der Schweiz setzte sich in den folgenden Jahrzehnten die Prämisse durch, Turnerinnen müssten bereits im Teenageralter ihren Zenit anstreben. Ab den 1970ern hiess es stets, wer es weit bringen wolle, müsse so früh wie möglich alles auf den Sport setzen. An diesem Credo hielten die Protagonisten im In- und Ausland bis vor kurzem fest. Sie taten das, obwohl der Kalte Krieg längst vorbei war – und obwohl es manche Experten eigentlich mittlerweile besser wussten.
Der Sportwissenschafter Christoph Schärer will den Beweis antreten, dass es auch anders geht. Er ist beim Schweizerischen Turnverband (STV) Leiter Forschung und Entwicklung und beim Bundesamt für Sport unter anderem für den Turnsport zuständig. 2004 hatte er selbst an den Olympischen Spielen in Athen teilgenommen. «Frauen können auch mit Ende 20 in Schnellkraftsportarten noch Höchstleistungen erbringen», sagt Schärer. «Die Sprinterin Mujinga Kambundji hat 29-jährig den Olympiafinal über hundert Meter erreicht. Es gibt keinen Grund, warum entsprechende Spitzenleistungen nicht auch im Kunstturnen möglich sein sollen.»
Schärer plädiert dafür, die Karrieren der Athletinnen in der Schweiz konsequent zu entzerren. Es sei wichtig, dass Mädchen im jungen Alter in den Turnvereinen intensiv trainierten. Dann lernten sie die Bewegungen am einfachsten. Doch in der Pubertät, deren Beginn individuell unterschiedlich sei, sollten weniger Absprünge und Landungen mit hohem Verletzungsrisiko verlangt werden. Stattdessen gelte es, den Turnerinnen in jener Wachstumsphase Zeit zu geben.
«Früher ging die Tendenz in die Richtung, dass man den kindlichen Körper trimmte», sagt Schärer. «Es gab keine individuelle Steuerung. Meine Perspektive ist nun eine andere: Wir sollten Athletinnen langfristig aufbauen und sie auch psychisch bereit machen, für den Leistungssport und fürs Leben.»
In der STV-Spitze stösst Schärer auf Zustimmung. «Das System gewährte den Turnerinnen bisher keine Zeit», sagt der Chef Olympische Mission, David Huser. Doch der gewünschte Erfolg habe sich trotz allem Drill allzu selten eingestellt. Zwar hätten sporadisch Athletinnen wie Giulia Steingruber und Ariella Kaeslin den Sprung an die Weltspitze geschafft. Huser möchte das jedoch nicht als Beleg verstanden wissen, dass das Fördersystem funktioniert habe. Vielmehr seien dies seinerzeit individuelle Ausnahmen gewesen.
Huser ist seit 2021 beim STV. Er kam, nachdem die «Magglingen-Protokolle» und weitere Medienberichte Missstände offensichtlich gemacht hatten. Sein späterer Amtsantritt mag ihm helfen, Versäumnisse der Vergangenheit schonungsloser analysieren zu können.
Der STV hat nun unter ihm beschlossen, dass Turnerinnen, die professionelle Karrieren anstreben, generell nicht mehr als 14-Jährige nach Magglingen ziehen sollen. Stattdessen sollen sie bis zur Volljährigkeit zu Hause wohnen und trainieren. «In einem Alter, das für die persönliche Entwicklung entscheidend ist, haben wir die Athletinnen bisher aus der Schule und dem gewohnten Umfeld genommen», sagt Huser. Das sei falsch gewesen. Künftig setze man länger auf die Arbeit in den regionalen Leistungszentren.
Die Änderung stösst nicht nur auf Begeisterung. Huser berichtet von «intensiven Gesprächen» mit Eltern, die befürchteten, ausgerechnet ihrer Tochter werde der Traum vom sportlichen Durchbruch genommen. Wie emotional bisweilen über Athletenwege diskutiert wird, zeigte sich im vergangenen Jahr. Die Nichtnominierung der Gymnastin Sophia Chiariello für die Junioren-WM wurde vom SRF skandalisiert, als sei die Athletin ihrer Zukunft beraubt worden.
Huser sagt, es gebe zudem auch Experten, die der Meinung seien, man müsse die Turnerinnen nicht später nach Magglingen beordern, sondern sogar noch früher, wolle man international erfolgreich sein. Er möchte den eingeschlagenen Weg jedoch beibehalten und die regionalen Leistungszentren befähigen, bei der Entwicklung der Talente eine grössere Rolle zu spielen. Ein wesentliches Argument in seinem Sinne ist die Altersentwicklung an Grossanlässen. Bereits seit 2003 ist zu beobachten, dass die Teilnehmerinnen an Weltmeisterschaften sowie Olympischen Spielen durchschnittlich immer älter werden (siehe Grafik). Auch international dauern Karrieren zunehmend länger.
Der Sportwissenschafter Schärer hofft, dass in der Schweiz künftig ganz andere Karrierewege möglich sein werden. Ziel müsse sein, nicht nur die Zahl der Verletzungen im Jugendbereich zu reduzieren, sondern möglichst häufig auch den vorzeitigen Abbruch von Karrieren zu vermeiden. «Die Zahl der Mädchen, die vor der Pubertät turnten, war in der Schweiz schon immer gross», sagt er. «Aber danach blieben nur wenige übrig. Die hohe Drop-out-Rate spricht eine deutliche Sprache.»
Wie gut die Reform gelingt, wird stark von den regionalen Leistungszentren abhängen, welche die Turnerinnen ab jetzt deutlich länger betreuen sollen. Der Bedarf an gut ausgebildeten Trainern steigt beispielsweise beim Zürcher Turnverband. Trotz der damit verbundenen Herausforderungen betont Marc-Oliver Völz, seit November Spitzensportchef beim Zürcher Turnverband (ZTV), er halte die Massnahme für richtig.
«Aus biomechanischer Sicht und aus der Sicht des Karrierewegs gibt es keinen Grund, die Athletinnen nicht noch etwas länger in ihrem gewohnten Umfeld zu lassen», sagt Völz. Es gehe auch um soziale Aspekte. «Bisher passierten die Wechsel oft viel zu früh. Wir hoffen, ein frühes Ausbrennen häufiger vermeiden zu können. Letztlich muss das Ziel sein, dass die Karrieren der Turnerinnen länger dauern.» Die Zusammenarbeit zwischen STV und ZTV werde künftig noch intensiver.
Gegenteilige Entwicklung im Skateboarden und Breakdance
Prinzipiell könnte die Erkenntnis, dass Höchstleistungen nicht nur im Teenageralter denkbar sind, auch in anderen Sportarten radikale Änderungen auslösen, beispielsweise im Eiskunstlauf. «Spitzensport sollte von Erwachsenen betrieben werden», sagt der Sportwissenschafter Schärer, «von reifen und selbstbestimmten Menschen».
Das Internationale Olympische Komitee (IOK) hätte die Möglichkeit, die Entwicklung zu forcieren, agiert jedoch wenig konsequent. Einerseits empfiehlt das IOK den Einzelsportverbänden seit 2022, Alterslimiten einzuführen. Andererseits wurde jüngst mit dem Skateboarden eine Disziplin olympisch, in der die führenden Protagonisten besonders jung sind, oftmals zwischen 12 und 14. Kaum anders ist es im Breakdance, das 2024 in Paris ins Programm der Sommerspiele aufgenommen wird.
Huser würde es begrüssen, wenn der Internationale Turnverband (FIG) mit einem verbindlichen Mindestalter im Elitebereich eine Vorreiterrolle einnähme. Dann wäre der Jugendwahn tatsächlich Geschichte. In Gesprächen mit Funktionärskollegen stellt er jedoch eine grosse Zurückhaltung fest: Man wartet auf ein Handeln des IOK. Bis auf weiteres dürfte der Trend, Athletinnen mehr Zeit zu geben, auf internationaler Ebene freiwillig bleiben.
Ein Artikel aus der «NZZ am Sonntag»