Von «Full Metal Jacket» über «Lolita» bis zu «2001 – A Space Odyssey»: Dem Meisterregisseur ging es immer um Macht und Gewalt.
Er hat in 40 Jahren 13 Filme gedreht, in langer Arbeit ausgedacht und mit obsessiver Kontrolle hergestellt. Alle gründen in Stanley Kubricks Pessimismus über die Menschheit. Und alle handeln sie von der Gewalt. Gewalt von Starken gegen Schwache, Männern gegen Frauen, Jungen gegen Alte, Älteren gegen Junge. Gewalt im Krieg und im Nuklearkrieg, in der Liebe und der Sexualität, Gewalt vom Computer aus und Gewalt schliesslich im Wahn. Physisch, psychisch, technisch. Unausweichlich, unentrinnbar.
Stanley Kubrick war eine widersprüchliche Persönlichkeit. Er lebte abgeschieden, gab selten Interviews und wollte immer die Kontrolle behalten. Obwohl er sich stets als New Yorker verstand, zog er schon Anfang der sechziger Jahre nach England und installierte sich in einem abgelegenen Landsitz in Hertfordshire nördlich von London. Aus Flugangst mied er das Reisen und drehte von 1962 an alle seine Filme in England oder Irland, selbst wenn sie in Vietnam spielten oder Colorado. Anders als so viele Regisseure behielt er die Kontrolle über seine Filme und fand trotzdem immer Geldgeber.
Zugleich war Kubrick ein herzlicher Mensch, der seine Crews liebte, seine Frau, seine Kinder, seine Katzen, seine Hunde. Er reagierte mit Interesse auf Anregungen von anderen, war offen für Vorschläge seiner Schauspielerinnen und Schauspieler und besass einen ausgesprochen schwarzen Humor.
Tyrann der eigenen Ansprüche
Sein detailversessen erstelltes, von langen Pausen punktiertes, von klassischer Musik mitreissend vertontes Werk zeigt einen brillanten Ästheten und Perfektionisten der Inszenierung. Auf dem Set galt Kubrick als Tyrann der eigenen Ansprüche. Er quälte seine Schauspielerinnen und Schauspieler mit endlosen Takes. So musste Jack Nicholson für eine Anfangsszene von «The Shining» 80 Mal die Strasse vor dem Overlook-Hotel überqueren. Keiner der Geschundenen hat sich über die Behandlung beklagt.
Und wie zeigte Kubrick die Gewalt, die seine Filme dermassen bestimmte? In «Masse und Macht», seinem philosophischen Essay von 1960, schreibt der Schriftsteller Elias Canetti über das Spiel der Katze mit der Maus. Fängt die Katze die Maus, wartet die Gewalt. Spielt die Katze aber mit der Maus, begibt sie sich in eine Position der Macht. Canettis Metapher mündet in den Aphorismus: «Wenn die Gewalt sich mehr Zeit nimmt, wird sie zur Macht.» Der Satz ist umkehrbar: Wenn die Macht die Geduld verliert, regrediert sie zur Gewalt. Auf alle Filme von Stanley Kubrick lässt sich Elias Canettis Denkfigur anwenden – oder ihre Umkehrung.
Gewalt und Macht der Soldaten
In «Full Metal Jacket» müssen die Soldaten beim Drill in ihrer Identität gebrochen werden, bevor sie mit dem soldatischen Körperpanzer, wie Klaus Theweleit es in seinen «Männerphantasien» nannte, als stählerne Tötungsmaschinen wieder aufgebaut werden. Identitätslos, skrupellos, rücksichtslos. Die Macht des Militärs entwickelt sich erst zur Gewalt der Rekruten gegen sich selber. Und dann zur Gewalt der Soldaten gegen die Nordvietnamesen.
Schon in «Paths of Glory» hatte sich Kubrick mit dem Krieg befasst, allerdings idealistischer. Der Film, in strengem Schwarz-Weiss und streckenweise aus ungewöhnlichen Perspektiven gefilmt, zeigt Kirk Douglas als moralisch integren Offizier im Ersten Weltkrieg, der sich weigert, seine Soldaten in einen sinnlosen Angriff gegen deutsche Truppen zu führen. Im Vergleich dazu gibt sich «Full Metal Jacket» zynisch. Selbst der intellektuelle, von Matthew Modine gespielte Joker, der zu Beginn der Ausbildung renitentes Verhalten zeigt, wird spätestens in Vietnam zu einem Killer wie alle anderen, obszön in die Gewalt verliebt. Kubrick macht deutlich, dass der Krieg keine moralische Integrität zulässt.
Die Gewalt als Macht zeigt sich auch in seiner Verfilmung von Vladimir Nabokovs «Lolita». Darin verliebt sich der Literaturprofessor Humbert Humbert in Dolores, die Tochter seiner Vermieterin. Er nennt sie Lolita und begehrt sie als Ausdruck einer verruchten Unschuld. Um ihr nahe zu kommen, heiratet Humbert ihre Mutter, die er verachtet. Als diese dann bei einem Unfall stirbt, nimmt er die Tochter mit auf eine Autoreise durch Amerika. Die Fahrt endet in einer Kleinstadt, in welcher der Professor einen Lehrauftrag bekommen hat. Die beiden beziehen ein Haus, und dort vergeht sich Humbert weiter an dem Mädchen, er kontrolliert es, wacht eifersüchtig über seine Kontakte zu Mitschülern und steigert sich immer mehr in einen Liebeswahn. Doch schliesslich verliert er Lolita, weil sie sich seiner Kontrolle entzieht.
Humberts Gewalt lässt sich Zeit, solange Lolita ihm folgt. Sobald sie sich zu befreien versucht, steigern sich sein Kontrollbedürfnis und seine Aggression. Indem Kubrick auch Humberts Begehren zeigt und Lolitas verführerische Ausstrahlung, macht er deutlich, wie sich die Macht ihrer Gewalt rechtfertigt: als Reaktion auf ihre drohende Ohnmacht.
Gewalt als evolutionäre Leistung
Die Entwicklung von der Macht zur Gewalt dominiert auch Kubricks Dystopie «2001 – A Space Odyssey», seinen brillanten Science-Fiction-Film von 1968. Mit der ihm eigenen Detailversessenheit beschreibt der Regisseur den Flug des Raumschiffs Discovery zum Jupiter, wobei die Astronauten an Bord nicht wissen, worum es bei dieser Mission geht. Auf dem Jupiter wurden im All schwebende Monolithen entdeckt, die auf eine hohe ausserirdische Intelligenz schliessen lassen. Wir haben einen dieser Monolithen schon zu Beginn des Filmes gesehen, der in der Vorzeit spielt. Als sich der Monolith vor einer Horde Affen aufbaut, inspiriert er ihren Anführer dazu, einen Knochen als Waffe zu benutzen. Gewalt als evolutionäre Leistung.
Der Einzige an Bord der «Discovery», der die Absicht der Mission kennt, ist der Grosscomputer HAL. Er steuert das Raumschiff, dient den beiden Astronauten und überwacht das Leben ihrer drei Kollegen, die in der Hibernation, im Tiefschlaf, liegen. HAL spricht mit einer ruhigen, warmen Stimme und gibt sich als Freund. Die Astronauten vertrauen ihm.
Das geht so lange gut, bis HAL eine angebliche Fehlfunktion im Raumschiff meldet. Und diese als Vorwand verwendet, um alle Astronauten bis auf einen umzubringen. Er glaubt nämlich, die Mission sei durch menschliche Zweifel gefährdet. In diesem Film tritt die Macht in Form eines allwissenden, alles regulierenden Elektronengehirns auf, eines für unfehlbar gehaltenen Computerprogramms. Diese Macht schlägt dann in Gewalt um, als der Computer seine Macht bedroht sieht. Mit seinem Film nahm Stanley Kubrick die intensiv geführte Debatte um die Gefahren der künstlichen Intelligenz vorweg.
Das Auge als Organ der Macht
Das Organ der Macht ist bei Kubrick das Auge: des Computers HAL, des lüsternen Professors, des tyrannischen Drillmeisters in «Full Metal Jacket». Die Filme führen auch vor, was man im Gesamtwerk des Regisseurs registriert: Er inszeniert Macht und Gewalt als kalte Umsetzung heisser Gefühle.
Kubricks Figuren sind von derselben Kälte durchdrungen, mit der sie andere wahrnehmen. Humberts Leidenschaft für Lolita gilt nicht ihrer Person. Es sind narzisstische Projektionen. Auch «2001» ist ein kalter Film. Gleissend fällt das Sternenlicht auf das Raumschiff, von scharfen Schatten konturiert, lautlos schwebt es durchs All. Die warmherzige Stimme von HAL klingt von dem Moment an verstörend, als er die Mitglieder der Crew umbringt.
Dieselbe Kälte friert die höhnische Satire «Dr. Strangelove» ein, in der Kubrick die nukleare Bedrohung der Kubakrise zu Ende denkt. Sie begleitet auch den gesellschaftlichen Aufstieg von Barry Lyndon, einem englischen Nichtsnutz aus dem 18. Jahrhundert, der mit einer Kombination von Lügen, Intrigen, Opportunismus und Brutalität in die bessere Gesellschaft hochrobbt, wo er eine reiche Frau heiratet. Oder der unaufhaltsame Niedergang in den Wahn von Jack Nicholsons Figur in «The Shining»: Von der ersten Szene des Films an ist er drohend angedeutet. Und auch dieser Film endet auf eisige Art: Jack verirrt sich beim Versuch, seinen Sohn mit der Axt zu erschlagen, im vereisten Labyrinth, das vor dem Hotel steht. Der Einfall sieht aus wie eine Metapher auf Kubricks Werk.
Der Film mit der meisten Gewalt
Wie die Macht zur Gewalt wird, wenn sie die Geduld verliert: Das inszeniert Kubrick besonders radikal in «A Clockwork Orange», seinem Film mit der meisten Gewalt von allen. Die Inszenierung löste dermassen heftige Nachahmungstaten aus, dass der Regisseur selbst seinen Film in England sperren liess. Auch in anderen Ländern wurde er verboten.
«A Clockwork Orange» spielt im London einer nahen Zukunft und porträtiert den Jungkriminellen Alex DeLarge und seine Kumpanen, die «Droogs», die in einem Ghetto leben. Alex kennt drei Leidenschaften, die er als Einheit erlebt: Sex, Gewalt und Beethoven. «A Clockwork Orange» macht drastisch vor, mit welcher Brutalität die «Droogs» ihre Opfer traktieren. Ein Obdachloser unter einer Brücke wird zusammengeschlagen, ein älteres Paar in einem Landhaus so schwer attackiert, dass die Frau stirbt und der Mann nur schwer beeinträchtigt überlebt.
Nach Alex’ Verhaftung wendet sich die Macht des Staates gegen den Kriminellen. Alex lässt sich auf ein Experiment ein, bei dem seine Liebe zur Gewalt in Ekel umschlägt. Kubrick zeigt erst die Gewalt, die Alex ausübt, als eine Erregung, als Sexualität der Vernichtung. Um dann die Rache des Staates als sadistische Machtausübung darzustellen.
Die brillante Kälte fast aller seiner Filme lässt sich auch als Misstrauen gegenüber unserer Empathie interpretieren. Kubrick zwingt uns, menschliche Gewalt nicht nur wahrzunehmen, sondern auch zu erleben. Stanley Kubrick hasste die Menschen nicht, hielt aber nichts von der Menschheit. Andererseits operierte er als Aufklärer. Und traute uns etwas zu mit seinem unsentimentalen Angebot, mit dem filmischen Sezieren der menschlichen Natur, mit der realistischen Darstellung unserer Bereitschaft zur Bestialität.
Stanley Kubrick war ein Chirurg der Gewalt. Er führte seine Kamera wie ein Skalpell. Und er operierte ohne Narkose.
«Das Böse in uns», die Veranstaltung von Cinepassion mit Filmen und Vorträgen, findet vom 29. Februar bis 3. März im Zürcher Kino Uto statt.