Antoinette Hunziker erklärt, warum so viele Fälle von Greenwashing auftreten – und wieso der Skandal bei South Pole nicht überraschend kommt. Zudem warnt sie vor einem Regulierungsmonster der EU.
NZZ am Sonntag: Sie zählen zu den Pionieren für nachhaltige Anlagen. Schmerzt es Sie, dass der Bereich durch zahlreiche Greenwashing-Fälle in Verruf geraten ist?
Antoinette Hunziker: Dass sich jetzt die Spreu vom Weizen trennt, sehe ich primär als Chance. Dank diesen Fällen werden die Anlegerinnen und Anleger kritischer. Sie wollen genauer wissen, ob die nachhaltigen Produkte ihre Versprechen wirklich einhalten.
Die jüngsten Fälle betreffen Klimazertifikate: Die Schweizer Firma South Pole musste als Marktführerin ihr Vorzeigeprojekt Kariba in Simbabwe stoppen, weil sie die versprochene Wirkung nicht belegen konnte. Sie haben schon vor zehn Jahren ein Waldschutzprojekt der Firma geprüft, aber nicht investiert. Warum nicht?
Zunächst: Dass CO₂-Emissionen einen Preis haben sollen, finde ich sinnvoll. Dies fördert den Anreiz, den Ausstoss zu reduzieren. Trotzdem stehen wir dem Kauf von Klimazertifikaten kritisch gegenüber. Denn die Gefahr besteht, dass Unternehmen ihre Verantwortung dadurch auslagern.
Sie sprechen von einem Ablasshandel.
Das Ziel jeder Firma muss es sein, die Emissionen am eigenen Standort und in der eigenen Wertschöpfungskette so weit als möglich zu reduzieren. Erst danach sollten nicht mehr vermeidbare Emissionen durch Zertifikate kompensiert werden. Wird die Kompensation dagegen genutzt, um eigene Massnahmen zu umgehen, so besteht in der Tat die Gefahr eines Ablasshandels. Aus denselben Gründen bin ich skeptisch, wenn mit der Bezeichnung «klimaneutral» geworben wird.
Läuft es nicht auf das Gleiche hinaus, ob man die CO₂-Emissionen selbst reduziert oder jemand anderen dafür bezahlt?
Das Problem liegt darin, dass es enorm schwierig ist, den effektiven Nutzen von Klimazertifikaten nachzuweisen. Vielfach basieren diese auf Annahmen. Nehmen wir das erwähnte Waldschutzprojekt: Wie will man beweisen, dass ein bestimmter Wald just dank dem Zertifikat nicht abgeholzt wird? Die Knacknuss ist also das Kriterium der Zusätzlichkeit. In der Praxis muss man sich hier oft mit ungewissen Versprechungen zufriedengeben.
Weshalb Sie bei South Pole nicht investiert haben?
Wir haben damals eine transparente Dokumentation verlangt: Wie genau werden die Kompensationen berechnet? Wie zuverlässig sind die Daten? Lässt sich belegen, dass der Wald nur dank dem Verkauf dieser Zertifikate weiterexistiert? Selbst wenn die Grundidee zunächst überzeugend wirkt, so liegt die Crux eben in der Umsetzung. Denn viele dieser Projekte lassen sich nur schwer skalieren.
Das bedeutet, dass der Markt für Klimazertifikate ein übermässiges Wachstum gar nicht bewältigen kann?
Das ist die grosse Herausforderung: Eigentlich müsste der Markt so funktionieren, dass zuerst nützliche Projekte entstehen, für die danach Investoren gesucht werden. Doch das enorme Wachstum hat dies auf den Kopf gestellt: Der Markt wurde dermassen mit Geldern überschwemmt, dass die Klimaprojekte mit diesem Tempo gar nicht Schritt halten konnten.
Auch das Volumen der nachhaltigen Finanzanlagen ist explodiert: In der Schweiz kam es zwischen 2015 und 2020 zu einer Verzehnfachung. Beobachten Sie hier dasselbe Problem der fehlenden Skalierbarkeit?
Tatsächlich besteht eine Parallele zu den Klimazertifikaten. So erfreulich der Boom eigentlich ist: Er verleitet zur Einschätzung, die Finanzflüsse hätten schon viel zu den Nachhaltigkeitszielen beigetragen – obwohl wir erst am Anfang stehen. Hinzu kommt, dass die Nachhaltigkeit je nach Anbieter sehr unterschiedlich ausgelegt wird und die Produkte deshalb stark variieren können.
Viele Fonds deklarieren sich als nachhaltig, weil sie zum Beispiel Tabak- oder Waffenhersteller ausschliessen. Wie beurteilen Sie solche Produkte?
Rechtlich ist das in Ordnung. Gerade deshalb ist das Volumen so stark gestiegen. Heute genügt es, einen bestehenden Fonds leicht zu modifizieren, um das Prädikat als ESG-Anlage zu erhalten. Problematisch wird es dann, wenn eine Bank, wie im Fall DWS, Versprechungen abgibt, die sie nicht einhält. Was heisst das für die Kunden? Weil klare Bestimmungen zu den Nachhaltigkeitskriterien fehlen, sind sie gezwungen, eigene Nachforschungen zur Ausrichtung des Produkts anzustellen.
Ihre Firma Forma Futura setzt die Latte besonders hoch an: Basierend auf den Daten von weltweit 10 000 Unternehmen, erfüllen nur 250 Ihre Anforderungen. Warum benutzen Sie so strenge Kriterien?
Uns geht es darum, die Lebensgrundlage für die kommenden Generationen zu bewahren. Deshalb investieren wir in Unternehmen, die sowohl ihren ökologischen Fussabdruck verkleinern als auch positive Beiträge zur Erreichung der nachhaltigen Entwicklungsziele leisten. Somit müssen sie eine führende Stellung bei der Transformation oder der Weiterentwicklung ihres Geschäftsmodells innehaben.
Der Ausschluss einiger kritischer Konzerne oder Sektoren genügt Ihnen also nicht?
Nein, wir setzen gezielt auf jene Unternehmen, die ihre Wertschöpfungskette so umformen, damit diese effizienter, umweltbewusster und sozial verträglicher wird.
Zum Beispiel?
Die Firma Logitech, die Computerzubehör herstellt, hat das Konzept, den negativen Fussabdruck zu reduzieren und gleichzeitig den positiven Handabdruck zu vergrössern, bereits im Jahr 2019 eingeführt. Das Unternehmen legt insbesondere Wert auf nachhaltiges Design, eine verantwortungsvolle Produktion und das Recycling. Ein wichtiger Pfeiler der Strategie von Logitech ist die Kreislaufwirtschaft, welche nicht nur den Abfall reduziert, sondern ebenso die Langlebigkeit der Produkte fördert.
Wie schneiden die kotierten Schweizer Firmen generell ab?
Gerade in der Industrie finden wir einige vorbildliche Unternehmen. Diese sind häufig durch eine Ingenieurskultur geprägt und strebten schon immer nach einer konstanten Verbesserung der Wertschöpfungskette. Erwähnen möchte ich den Sanitärtechnikkonzern Geberit, die Firma Bachem im Medizinalbereich, das Industrieunternehmen Georg Fischer oder den Hörgerätehersteller Sonova. Weitere Namen sind Belimo, SIG, Sika oder Zug Estates – wir stehen mit einer Vielzahl von Firmen im engen Austausch. Unser Beitrag zur Nachhaltigkeit ist dieser Dialog, den wir führen, sowie die Überprüfung der erzielten Fortschritte.
Antoinette Hunziker
Bereits 2006 gründete Antoinette Hunziker mit Forma Futura eines der ersten Finanzinstitute, die sich auf Nachhaltigkeit spezialisierten. Zuvor war sie Chefin der Schweizer Börse. Seit 2015 ist sie zudem Präsidentin der Berner Kantonalbank.
Larry Fink, der Chef des weltgrössten Fondsanbieters Blackrock, hat den Nachhaltigkeitsbegriff ESG aus seinem Vokabular gestrichen, denn dieser sei «ideologisch vergiftet». Sehen Sie das ebenso?
Besonders in den USA hat sich die politische Debatte rund um ESG stark zugespitzt: Doch diese extreme Politisierung hat mit unserer konkreten Arbeit wenig zu tun. Wir fokussieren uns darauf, transparent und anhand von griffigen Kriterien die nachhaltigsten Unternehmen herauszufiltern und zu begleiten.
Vom Finanzsektor wird eine aktive Einflussnahme erwartet: Ergibt das wirklich Sinn?
Der Geldfluss spielt eine wichtige Rolle bei allen Innovationen. Deshalb sehe ich das als riesige Chance für die Finanzindustrie.
Doch wie sollen die Banken mit den politischen Widersprüchen umgehen? Die Kernenergie zum Beispiel ist für die einen nachhaltig und für die anderen nicht.
Es stimmt, jede Person definiert Nachhaltigkeit anders. Trotzdem können die Finanzinstitute einen wichtigen Beitrag leisten, sowohl über ihr Angebot als auch über die Bewusstseinsbildung. Wichtig ist dabei, dass sie klar und verständlich aufzeigen, welche Kriterien sie anwenden. Macht man den Leuten dagegen ein X für ein U vor, verliert man seine Glaubwürdigkeit.
Wie stehen Sie zu verschärften Regulierungen, wie sie die EU mit ihrer neuen Taxonomie plant?
Die Europäische Union begegnet der Glaubwürdigkeitskrise mit einer Flut von Regulierungen, die sich leider immer weiter vom praktisch Anwendbaren entfernen. Ein solches Regulierungsmonster sorgt für noch mehr Verwirrung als für dringend nötige Klarheit. Zudem muss man bei jeder Vorschrift bedenken, wie anspruchsvoll ihre Überprüfung ist. Stattdessen sollte man klar festlegen, wann genau ein Finanzprodukt als «nachhaltig» vermarktet werden darf.
Vermehrte Greenwashing-Fälle sowie eine drohende Überregulierung: Geht der Trend zu mehr Nachhaltigkeit trotzdem weiter?
Für mich ist das kein Trend. Nachhaltigkeit ist schlicht und einfach eine Notwendigkeit. Das ist ebenso die Wahrnehmung in den Firmen, mit denen wir zusammenarbeiten: Diese wollen mit ihren Innovationen einen Beitrag für die nächsten Generationen leisten. Ich bin begeistert, welche Fortschritte diese Unternehmen erzielen.
Ein Artikel aus der «NZZ am Sonntag»