Sie hätte gute Voraussetzungen gehabt, ihren Einfluss in Europa auszubauen. Doch bei der Bildung der neuen EU-Kommission hat sich Giorgia Meloni für den Gang in die Opposition entschieden – und damit eine möglicherweise folgenreiche Kehrtwende vollzogen.
Der vergangene Donnerstag war ein schwarzer Tag für Giorgia Meloni. Die italienische Regierungschefin steht im Schlosspark von Blenheim Palace in Oxford und hält sich entgegen ihrer Art von Journalisten fern. Wenige Stunden zuvor hat in Strassburg ein breites Bündnis Ursula von der Leyen an der Spitze der EU-Kommission bestätigt. Während die anderen Staats- und Regierungschefs nach dem Gipfeltreffen der Europäischen Politischen Gemeinschaft in Oxford vor Medienvertretern ihre Erklärungen abgeben, entzieht sich Meloni neugierigen Fragen.
In einem versteckten Winkel des Gartens nimmt sie einen Videoclip auf, um den Anhängern zu Hause in Italien zu erklären, was nicht leicht zu verstehen ist: Die 24 Abgeordneten ihrer Partei Fratelli d’Italia haben im EU-Parlament gegen die Wiederwahl von der Leyens gestimmt. Es ist das erste Mal in der Geschichte Europas, dass sich das Gründungsland Italien in Brüssel in die Opposition begibt.
Mitreden wollen und dann doch kneifen?
Mit der überraschenden Entscheidung setzte die Rechtspopulistin aus Rom vorerst einen Schlussstrich unter die ersten 21 Monate ihrer Amtszeit. Seit ihrem Amtsantritt 2022 hatte sie sich an die EU-Partner angenähert und eine radikale Abkehr von ihrem traditionellen Euroskeptizismus betrieben. Dieser Kurswechsel hat ihr international Glaubwürdigkeit und einen erheblichen Einfluss eingebracht. Noch auf dem G-7-Gipfel in Apulien galt sie als die starke Frau der westlichen Welt – als Gegenstück zu lauter angeschlagenen Männern wie Joe Biden, Emmanuel Macron oder Olaf Scholz. Und nun diese Entscheidung. Dem Gerede der vergangenen Monate über ihre vermeintliche Schlüsselrolle in Brüssel bereitet sie selbst ein Ende. Was ist passiert?
Meloni hatte beim Machtpoker in Brüssel eigentlich gute Karten. Sie war als einzige Regierungschefin eines grossen EU-Landes siegreich aus der Europawahl hervorgegangen. «Unsere Regierung ist die stärkste in Europa», tönte sie und leitete daraus den Anspruch ab, bei der Bildung der neuen EU-Kommission ein wichtiges Wort mitzureden.
Warum die Ablehnung von der Leyens mit ihrer bisherigen Strategie in Einklang stehen soll, ist schwer nachzuvollziehen. Meloni selbst bezeichnete das negative Votum in Strassburg als «folgerichtig». Doch die deutsche EU-Kommissions-Präsidentin hatte sich in der Vergangenheit sehr um die Italienerin bemüht und sich für die Belange Italiens eingesetzt. Sie hatte sich an der Seite von Meloni im Helikopter ein Bild von der Lage in den italienischen Überschwemmungsgebieten gemacht und auf ihren gemeinsamen Afrika-Reisen umstrittene Migranten-Deals mit den Autokraten in Tunesien und Ägypten unterstützt. Zwischen den machtbewussten Frauen schien sich eine Freundschaft zu entwickeln. Von der Leyen brachte der Kuschelkurs mit der stramm rechten Römerin auch heftige Kritik ein. Doch die beiden Politikerinnen haben sich bis zum Schluss gegenseitig umworben.
Der Bruch wird nun auf italienischer Seite offiziell mit dem Festhalten der Kommissionschefin am Green Deal und an den Klimazielen der EU begründet. «Von der Leyen hat sich den Grünen verschrieben, so dass es für uns unmöglich ist, sie zu wählen», sagte Nicola Procaccini, EU-Abgeordneter der Fratelli d’Italia, in Strassburg. Francesco Galietti, Chef der römischen Beratungsfirma Policy Sonar, hat eine andere Erklärung: «Als Meloni merkte, dass sie für von der Leyen nicht wirklich unentbehrlich war, drehte sie durch.» Sie habe sich überflüssig gefühlt und erkannt, dass sie kein Druckmittel in der Hand habe. «Dies war der Moment, in dem die Maske fiel», sagt Galietti. Meloni folgte lieber Viktor Orban in die Opposition. Ihr eigentliches Ziel hat sie damit vorläufig verfehlt: Europa von innen zu verändern.
Der Druck zu Hause wächst
In Italien erregte der Selbstausschluss die Gemüter. «Was wir erlebt haben, zeigt die absolute Irrelevanz dieser Regierung in Europa», sagte die sozialdemokratische Oppositionsführerin Elly Schlein. Romano Prodi, der frühere Regierungschef und ehemalige EU-Kommissions-Präsident, bedauerte das Abstimmungsverhalten der regierenden Fratelli d’Italia: «Es hat noch keine wichtige Entscheidung in Europa gegeben, die nicht von Italien mitgetragen worden wäre.» Die regierungskritische römische Tageszeitung «La Repubblica» ging scharf mit dem «Debakel von Giorgia Meloni» ins Gericht. Das rechtsliberale Blatt «Il Foglio» monierte die «verhängnisvolle Entscheidung».
Doch gibt es für Melonis Kehrtwende vermutlich ein vor allem innenpolitisches Motiv: die Angst vor der Konkurrenz von rechts. Die Machtpolitikerin ist in eine schwierige Lage geraten. Ihr Koalitionspartner, der Lega-Chef und Vizeregierungschef Matteo Salvini, provoziert Meloni seit Wochen mit Angriffen auf die EU, auf von der Leyen und auf die etablierten Politiker in Europa. Der Putin-Freund schimpft über die Unterstützung der Ukraine und wünscht sich den Sieg von Donald Trump bei den amerikanischen Präsidentschaftswahlen im November. «Wenn Meloni von der Leyen wählt, ist das ihr Ende», sagte Salvini neulich in Hörweite von Journalisten. Ihm hat sich die Regierungschefin nun offenbar gebeugt.
Dass sich Italiens Einflussmöglichkeiten in Brüssel damit erheblich reduzieren, nimmt sie in Kauf. Schon allein angesichts des europäischen Defizitverfahrens gegen das hochverschuldete Land sorgt das für Unruhe. Im Herbst muss Finanzminister Giancarlo Giorgetti Italien in Absprache mit der Kommission auf einen harten Sparkurs bringen und in den kommenden Jahren zwingend hohe Haushaltskürzungen durchsetzen. Auf grosse Nachsicht kann er in Brüssel wohl nicht mehr hoffen.