Einst hatte Paris fast 3 Millionen Einwohner, bald könnten es weniger als 2 Millionen sein. Lange verpönte Vororte wie Saint-Denis werden nun zu attraktiven Alternativen.
«Paris verkommt zu einem grossen Venedig, zu einem Freilichtmuseum für Touristen», sagt Hélène Ceccato. Sie sitzt in einem Café am Platz vor der berühmten Basilika von Saint-Denis, wo die meisten französischen Könige begraben wurden. Sonst hat die Vorstadt im Norden von Paris auf den ersten Blick wenig zu bieten. Das Zentrum wird dominiert von einem monströsen Siebziger-Jahre-Shoppingzentrum im Brutalismus-Stil, der Beton bröckelt. Saint-Denis gilt als Inbegriff einer problembeladenen Banlieue, die Kriminalitätsrate ist hoch. Immer wieder kommt es in der Gegend zu Strassenkrawallen.
Und doch ist Saint-Denis zu einem Zufluchtsort für Leute wie Hélène geworden. Familien aus der Mittelklasse, die sich das Leben in einem der zwanzig Arrondissements von Paris nicht mehr leisten können.
Dass die Bevölkerung von Paris kleiner wird, ist kein neues Phänomen. Einst lebten fast 3 Millionen Menschen in der Hauptstadt. In den sechziger Jahren begann die Zahl der Einwohner dann rapide zu sinken und hielt sich lange ziemlich konstant bei rund 2,2 Millionen, mit einem leichten Ausschlag nach oben um das Jahr 2010. Doch in den letzten Jahren hat sich der Schrumpfprozess beschleunigt.
73 000 Einwohner sind weg
Von 2015 bis 2020 hat Paris netto 73 000 Einwohner verloren. Das wird zum Politikum: Die Rechte sieht die Schuld bei der seit 2014 regierenden linken Bürgermeisterin Anne Hidalgo. Vor allem die nationale Kulturministerin Rachida Dati (Les Républicains), die bei Umfragen für die Bürgermeisterwahlen von 2026 in Führung liegt, nutzt das Demografie-Argument. Allerdings entvölkert sich das 7. Arrondissement mit dem Eiffelturm und dem Invalidendom besonders schnell – und dort ist Dati seit 2008 Bürgermeisterin.
Das nationale Institut für Statistik und ökonomische Studien (Insee) hält es in einer Studie vom letzten Sommer für möglich, dass die ständige Wohnbevölkerung von Paris bis in fünfzehn Jahren sogar auf unter 2 Millionen fällt. Zudem vergreist die Stadt: Der Anteil der über 75-Jährigen ist höher als in den meisten anderen Landesgegenden. Kinder kommen immer weniger zur Welt, viele Schulen müssen Klassen schliessen. Und das ist auch kein Wunder, wenn man die Situation der Familien betrachtet.
Hélène Ceccato und ihr Mann lebten im 13. Arrondissement im Südosten von Paris, als vor fünfzehn Jahren ihre erste Tochter Héloïse zur Welt kam. Ihre damalige Wohnung kostete rund 1000 Euro im Monat und hatte eine Fläche von 35 Quadratmetern – viel zu wenig für drei Personen. Und bei der Wohnungssuche merkten die Ceccatos wie so viele andere Familien schnell, dass es mit ihren Mittelschichtseinkommen schwierig wäre, in Paris etwas Grösseres zu finden, das bezahlbar wäre.
Ein Haus für 580 000 Euro
Also verlegten sie ihren Wohnsitz vor zwölf Jahren nach Saint-Denis, wo bereits einige ihrer Freunde hingezogen waren. Zuerst in eine Wohnung nahe beim Stadtzentrum, dann kauften sie sich ein Haus mit Garten beim Stade de France. 160 Quadratmeter für 580 000 Euro. In Paris gäbe es für dieses Geld nicht einmal die Hälfte der Wohnfläche, die durchschnittlichen Quadratmeterpreise liegen dort zwischen 9000 und 10 000 Euro. Und das bei einem Medianeinkommen von 4000 Euro.
Für eine Verknappung auf dem Pariser Wohnungsmarkt sorgt der Umstand, dass in jeder zweiten Familie die Eltern getrennt leben. Und dass mittlerweile fast jede fünfte Wohnung ganz leer steht oder nur wenig benutzt wird. Das sind insgesamt 260 000 Wohnungen, wie das Pariser Stadtplanungsbüro Apur vermeldet hat.
Dahinter verbirgt sich der Boom von Airbnb. Das amerikanische Unternehmen mischt seit 2010 den Wohnungsmarkt in Paris auf. Innert weniger Jahre stieg dadurch die Zahl der möblierten Wohnungen, die auf Feriengäste ausgerichtet sind, um rund 20 000. So verpuffte der Effort der Stadt, die Zehntausende von neuen Behausungen baute, weitgehend.
Heute werden auf Plattformen wie Airbnb insgesamt etwa 80 000 bis 90 000 Wohnungen angeboten. Und das vor allem im 4., im 5. und im 6. Arrondissement, also den touristischen Hotspots wie dem Quartier Latin oder Saint-Germain-des-Prés. Dort steht jede dritte Wohnung nicht mehr den Einheimischen zur Verfügung, vor allem Studios und Zweizimmerappartements.
«Rückeroberung» der Unterkünfte
Angesichts der Wohnungskrise, die in Paris herrsche, verlangt das Stadtplanungsbüro eine «Rückeroberung» dieser Unterkünfte für die ganzjährigen Einwohner. Eine Möglichkeit dafür sei eine noch höhere Besteuerung für tage- oder wochenweise vermietete Apartments sowie für Zweitwohnungen.
Die Stadt hat allerdings bereits auf den Verdrängungskampf im Wohngebiet reagiert. Zweitwohnungsbesitzer müssen eine happige Wohnungssteuer entrichten. Und Einwohner von Paris dürfen ihren eigentlichen Hauptwohnsitz höchstens 120 Tage im Jahr an Touristen vermieten. Airbnb hat sich verpflichtet, eine Wohnung aus dem Angebot zu nehmen, wenn diese Obergrenze überschritten ist. Linken Politikern reicht das nicht: Sie fordern, dass das Maximum auf 90 Tage reduziert wird.
Premierminister Gabriel Attal hat darüber hinaus für das ganze Land einen Immobilien-«Angebotsschock» angekündigt, der auch in der Metropole wirksam werden soll. Ob eine solche staatliche Bauoffensive reicht, um die Entwicklung von Paris von einer Stadt der Einwohner zu einer Stadt der Touristen rückgängig zu machen, ist jedoch fraglich.
Wachsender Speckgürtel
Wahrscheinlicher ist, dass noch mehr Leute in den Speckgürtel ziehen, in Orte wie Saint-Denis, Boulogne-Billancourt oder Montreuil. In der Grossregion Paris leben bereits rund 11 Millionen Menschen, es ist der grösste Ballungsraum in der EU. Und er wächst weiter.
Hélène Ceccato sagt, sie liebe Paris, aber sie habe keine Sehnsucht nach dem Leben dort. Sie fährt nun mit dem Velo zu ihrem Arbeitsplatz bei der Hilfsorganisation Caritas im Pariser Norden, das dauert eine Viertelstunde – viel weniger lange, als sie von ihrem alten Wohnort im 13. Arrondissement aus gebraucht hätte.
Ceccato empfindet Saint-Denis als hochdynamische Gemeinde, auch wenn es keine Hipsterlokale oder Touristen mit Rollkoffern gibt. «Saint-Denis ist alles andere als eine Schlafstadt», sagt sie. Tatsächlich putzt sich der Ort heraus, nicht nur für die Olympischen Spiele – auf seinem Gebiet liegt neben dem Stade de France auch das Wassersportzentrum. Und ein Grossteil des olympischen Dorfs, das nach den Spielen Platz für 6000 Bewohner bieten wird.
Eine gentrifizierte Stadt?
Der sozialistische Bürgermeister Mathieu Hanotin hat es sich zum Ziel gemacht, aus der verrufenen Banlieue so etwas wie ein neues Arrondissement von Paris machen. Derzeit wird der grösste Platz von Saint-Denis frisch bepflastert, in den nächsten Jahren soll eine grosse Sanierung der Sozialwohnungen folgen.
Im früheren Industriequartier La Plaine, nahe bei der Grenze zur Hauptstadt, entstehen gleichzeitig zahlreiche schicke Appartements. Eine neue Tramlinie verbindet diese prosperierenden Viertel bald noch besser mit Paris. Bereits gibt es Stimmen, die vor einer Gentrifizierung von Saint-Denis und einer Verdrängung der Unterschichten warnen.
Wenige hundert Meter vom Haus der mittlerweile fünfköpfigen Familie Ceccato entfernt stehen die maroden Wohnblöcke der Cité des Francs-Moisins, wo viele Arme und Migranten wohnen. Doch das stört Hélène nicht, sie schätzt das Multikulturelle und die Diversität der Banlieue – und fühlt sich auch sicherer als in Paris.
«Dort hätten wir unsere Kinder nie allein auf die Strasse gelassen, hier ist das kein Problem.» Es gebe allgemein ein besseres Gemeinschaftsgefühl, die Menschen achteten aufeinander. Anders als im anonymen Zentrum von Paris.