Der französische Philosoph Alain Finkielkraut bezeichnet das Urteil gegen Marine Le Pen als «orwellianisch und kafkaesk». Er wirft der Justiz vor, Le Pens politische Karriere zu zerstören.
Herr Finkielkraut, Sie haben kürzlich die Verurteilung von Marine Le Pen als Ausdruck eines gefährlichen Justizaktivismus kritisiert. Die Richter hätten ihre Grenzen überschritten und sich vom Geist des Liberalismus entfernt. Das ist starker Tobak.
Lassen Sie mich unser Gespräch mit einer Klarstellung beginnen: Ich habe nie für die Partei von Marine Le Pen gestimmt und habe auch nicht vor, dies zu tun. Nicht, weil ich das Rassemblement national (RN) für faschistisch hielte: Das ist es im Gegensatz zu dem, was einige selbsternannte Antifaschisten immer wieder behaupten, nicht mehr. Das RN hat mit dem Pétainismus und dem Antisemitismus gebrochen, die der Gründung des Front national zugrunde lagen. Es gibt aus meiner Sicht andere gute Gründe, das RN zu kritisieren. Ich nenne zwei: sein absurdes Wirtschaftsprogramm und seine prorussische Tendenz. Marine Le Pen unterstützt die ukrainische Souveränität nur halbherzig. Sie bevorzugt den Imperialismus des Verbrechens.
Gut, ist notiert. Was also werfen Sie der französischen Justiz vor?
Das erstinstanzliche Urteil gegen Marine Le Pen ist skandalös. Vier Jahre Haft, davon zwei auf Bewährung, eine Geldstrafe und fünf Jahre Aberkennung der Wählbarkeit, mit sofortiger Vollstreckung. Das bedeutet, es gibt keine Unschuldsvermutung mehr. Und warum? Weil das RN Assistenten des Europäischen Parlaments für Parteizwecke eingesetzt hat. Vielleicht liegt hier ein Problem der Parteienfinanzierung vor. Doch es gab keine persönliche Bereicherung, keine Zweckentfremdung öffentlicher Gelder zu privaten Zwecken. Das sollte meines Erachtens nicht in den Zuständigkeitsbereich eines Strafgerichts, sondern allenfalls in den eines Verwaltungsgerichts fallen. Zudem hat das Gericht erklärt, es bestehe Wiederholungsgefahr – weil sich Frau Le Pen verteidigt hat und nicht auf schuldig plädierte. Als ich die Urteilsbegründung las, kamen mir zwei Adjektive in den Sinn: orwellianisch und kafkaesk.
Aber ist es nicht selbstverständlich, dass ein Gericht das Verhalten des Angeklagten während der Verhandlung berücksichtigt?
Nein! Hier wurde ihre Verteidigung ja als erschwerender Umstand gewertet – und das ist ungeheuerlich. Sie verteidigt sich, so gut sie kann, das ist ihr gutes Recht. Das Gericht mag ihr nicht glauben, aber es darf dieses Verhalten nicht als Grundlage nehmen, um die sofortige Vollstreckung der Aberkennung der Wählbarkeit zu rechtfertigen. Darüber hinaus ist es seltsam, dass das Gericht von einem Risiko der Wiederholung spricht, wo sie nicht einmal mehr EU-Abgeordnete ist. Dieses Risiko wurde übrigens im Fall ihrer Mitangeklagten nicht angeführt. Es geht also ausdrücklich darum, Le Pens politische Karriere zu zerstören. Das ist fatal, denn ich fürchte, dass viele Wähler aus Frust über das übermässige Vorgehen der Justiz jetzt erst recht das RN wählen werden.
Bleiben wir bei den Fakten: Es wurden 4 Millionen Euro öffentliche Gelder veruntreut. Es gab ein gründliches Gerichtsverfahren, klare Beweise. Vielleicht sind die Gesetze zu streng. Warum sehen Sie eine ideologisch gefärbte Justiz, wenn die Richter Gesetze anwenden?
Ich bestreite, dass es sich überhaupt um schwerwiegende Fakten handelt. Es geht um die Finanzierung einer politischen Partei, und fast alle Parteien befinden sich in derselben Lage. Auch François Bayrou wurde wegen Scheinbeschäftigung von Mitarbeitern angeklagt – und er ist heute Premierminister. Ich erkenne ein Muster. Die Justiz geht gezielt gegen rechte und rechtsextreme Verantwortungsträger vor. Nachdem sie 2017 François Fillon aus dem Weg geräumt hatte, will sie 2027 Marine Le Pen ausschalten. In der Zwischenzeit wird Nicolas Sarkozy auf absurde Weise verurteilt, die Richter werfen ihm «grenzenlose Gier» vor. Wir befinden uns nicht mehr im Bereich des Rechts, sondern im Bereich der Moral – einer rachsüchtigen Moral.
Vor einigen Jahren hat Marine Le Pen selber harte Strafen – sogar mit lebenslanger Unwählbarkeit – für vergleichbare Fälle gefordert.
Ja, man hätte sich gewünscht, dass sie früher mehr Verständnis und Nachsicht für andere Politiker gezeigt hätte, die ins Visier der Justiz geraten sind, bevor es sie selbst traf. Das ändert jedoch nichts daran, dass es heute eine unterschwellige, aber dominante Ideologie unter Frankreichs Richtern gibt – vor allem im Verfassungsrat. Dazu möchte ich Ihnen ein Beispiel geben. Im Namen des Prinzips der Brüderlichkeit hat der Verfassungsrat den Gesetzgebern untersagt, die Beihilfe zur Einreise illegaler Ausländer unter Strafe zu stellen. Damit wird das Prinzip der Brüderlichkeit gegen das Prinzip der nationalen Präferenz ausgespielt. Heute ist es also allgemein akzeptiert, dass man nicht mehr unterscheiden darf zwischen «innen» und «aussen», im Namen der Idee einer universellen Menschlichkeit. Aber wenn diese Unterscheidung abgeschafft wird, ist keine Nation mehr möglich. Und es scheint, dass ein grosser Teil der Richterschaft uns genau in diese Richtung führen will.
Aber das ist doch ein ganz anderer Sachverhalt.
Ich nenne Ihnen dieses Beispiel, um daran zu erinnern, dass die Justiz eine eigene Macht ist, die politische Wirkung entfaltet. In einer funktionierenden Demokratie bedeutet Gewaltenteilung nicht nur Schutz vor der Exekutive, sondern auch Wachsamkeit gegenüber einer Justiz, die mit moralischen Kategorien argumentiert. Wie sagte Montesquieu so schön? Damit Macht nicht missbraucht werden kann, ist es notwendig, dass die Macht durch die Anordnung der Dinge die Macht einschränkt. Seit einigen Jahren sehe ich, dass sich diese Macht aus ihren Schranken gelöst hat. Das beunruhigt mich, und mit diesem Gefühl bin ich nicht allein. Ich glaube, dass es selbst innerhalb der Richterschaft ein Unbehagen gibt.
Sie meinen, es gebe innerhalb der Justiz einen gezielten moralischen Erziehungsanspruch? Das lässt sich schwer belegen.
Durchaus nicht. Das linke Syndicat de la magistrature (Richtergewerkschaft), das im Gefolge von 1968 gegründet wurde, hat erst vor wenigen Monaten dazu aufgerufen, der extremen Rechten den Weg zu versperren – als ob das seine Aufgabe wäre. Auch vertreten heute alle Richter den Standpunkt, dass man gerichtliche Entscheidungen nicht kritisieren dürfe. Ich muss sagen, dass mich diese Behauptung – die übrigens von der wohlmeinenden Presse immer wiederholt wird – sprachlos macht. Was war denn bitte die Dreyfus-Affäre, wenn nicht die Kritik an einem Gerichtsurteil? Verstehen Sie mich bitte nicht falsch! Marine Le Pen ist natürlich kein neuer Dreyfus. Wir haben es mit einem völlig anderen Fall zu tun. Und doch: Dieses Urteil hat einen Teil der französischen Öffentlichkeit empört. Damals, zur Zeit der Dreyfus-Affäre, neigte die Justiz nach rechts, sogar nach ganz rechts. Heute neigt sie nach links, sogar nach ganz links.
Sie haben kürzlich in einem Beitrag für «Le Point» geschrieben, dass Sie sich ein Bündnis zwischen Linken und Rechten für eine neue politische Kultur in Frankreich wünschten. Wie soll diese aussehen?
Ich wünsche mir, dass Frankreich wieder an den Geist von Montesquieu anknüpft. Das wäre für mich eine politische Kultur, wie sie im klassischen, freiheitlichen Liberalismus verstanden wird. Walter Benjamin sagte einmal: Die Katastrophe ist, wenn die Dinge einfach ihren Lauf nehmen. Was heute in Frankreich seinen Lauf nimmt, das ist eine unkontrollierte Einwanderung, ein demografischer Wandel, der das Gesicht unseres Landes verändert. Ganz Europa steht vor dieser Herausforderung. In Dänemark sind es Sozialdemokraten, die den Stier bei den Hörnern gepackt haben. Ein Zusammenschluss aller Parteien, um die Einwanderung zu steuern, damit Integration gelingen kann – das wäre mein Wunsch für Frankreich. Was ich jedoch beobachte, ist, dass die Macht der Politik durch die Justizgewalt und eine Aneinanderreihung von Instanzen höchster Gerichtsbarkeit immer weiter eingeschränkt wird.
Wir wollten noch über die Partei von Marine Le Pen sprechen. Sie sagen, das RN habe sich von seinem faschistischen Erbe gelöst. Was ist das für eine Partei für Sie: eine populistische, eine nationalistische?
Eine populistische Partei mit Sicherheit. Das zeigt sich beispielsweise in ihrer Haltung zur Rentenreform: Das RN lehnt die Rente mit 64 Jahren ab und will das Rentenalter auf 62, wenn nicht sogar auf 60 Jahre zurücksetzen – was eine völlig unsinnige Forderung ist. Ich bin mir leider auch nicht sicher, ob die Partei wirklich aus kompetenten Personen besteht. Aber ich kann mich nur wiederholen: Es ist keine antisemitische oder rassistische Partei.
Der junge RN-Vorsitzende Jordan Bardella ist im März demonstrativ nach Israel gereist, um an einer Antisemitismus-Konferenz teilzunehmen.
Bernard-Henri Lévy hat dazu einen Artikel in Form eines offenen Briefes an den Präsidenten Israels veröffentlicht. Er schrieb, dass Israel für ihn nicht nur ein Zufluchtsort, sondern ein Zuhause sei, dass er aber aufgrund der Anwesenheit von Jordan Bardella und Marion Maréchal, der Nichte Le Pens, nicht zu der Konferenz kommen werde. Für mich überhaupt nicht nachvollziehbar! Was doch in Wahrheit viel schlimmer war, war die Anwesenheit von Itamar Ben-Gvir und Bezalel Smotrich! Das sind hemmungslose Fanatiker und widerwärtige Rassisten, und sie sitzen in Benjamin Netanyahus Regierung. Ich bin in Israel auf der Seite der Demonstranten, die Woche für Woche auf die Strasse gehen, um ein Ende der Kämpfe, die Rückkehr der Geiseln und neue Wahlen zu fordern. Ich hätte kein Problem damit, Bardella und Maréchal zu einem Gespräch zu treffen, aber nie im Leben würde ich mit Gvir und Smotrich eine Mahlzeit teilen.
Bernard-Henri Lévy teilt ihre Gelassenheit gegenüber dem RN nicht. Für ihn ist die Partei eine antirepublikanische Kraft, die ihre alten autoritären Ideen nur kaschiert.
Aber man muss sich doch nur ihren Diskurs anhören, man muss nur zur Kenntnis nehmen, welche Entscheidungen sie getroffen haben. Ich gebe Serge Klarsfeld recht: Er hat gesagt, die Verantwortlichen des RN seien heute zwar noch Gegner, aber sie seien keine Feinde mehr. Wir müssen leider konstatieren, dass der Antisemitismus in Frankreich das Lager gewechselt hat. Er ist heute bei den radikalen Linken zu finden, bei Jean-Luc Mélenchon und seiner Partei La France insoumise. Dort sitzen Hetzer wie Louis Boyard oder Raphaël Arnault. Das ist das grosse Drama der letzten Parlamentswahl: Man wollte eine Mauer gegen den Faschismus errichten und hat sich jede Menge Antisemiten ins Parlament geholt.
Glauben Sie noch an eine Kandidatur von Marine Le Pen 2027?
Meine Hypothese ist, dass die Aberkennung der Wählbarkeit von der Berufungsinstanz bestätigt wird. In diesem Fall wird das RN einen Ersatzkandidaten aufstellen, der höchstwahrscheinlich Jordan Bardella heisst. Aber das wird wenig am Ausgang der Wahl ändern. Die Wählerbasis der Partei ist sehr stark. Was ich mir persönlich wünsche, ist, dass es nicht zu einer Stichwahl kommt zwischen Le Pen oder Bardella auf der einen Seite und dem linken Volkstribun Jean-Luc Mélenchon auf der anderen. Das wäre für mich ein wahres Herzensleid. Was sich derzeit abzeichnet, ist eher ein zweiter Wahlgang zwischen dem RN und Édouard Philippe, dem liberalkonservativen Bürgermeister von Le Havre. Das wäre meiner Meinung nach wesentlich gesünder, und es würde mir ermöglichen, fast mit leichtem Herzen Édouard Philippe zu wählen.
Wenn es heute in Frankreich dieses Ungleichgewicht der Gewalten zugunsten der Justiz gibt, wie Sie behaupten; spiegelt das nicht auch eine Vertrauenskrise gegenüber den gewählten Volksvertretern wider?
Sagen wir so: Dieser justizielle Eifer, dieser Verfolgungsfuror, kann die unglückliche Vorstellung nähren, dass alle Politiker letztlich korrupt sind. Gerade deshalb ist es wichtig zu betonen, dass es im Fall des RN keine persönliche Bereicherung gegeben hat. Gut, es gab den Fall des Chauffeurs von Jean-Marie Le Pen . . .
Sie sprechen von Gérald Gérin, der auch wegen Scheinbeschäftigung als parlamentarischer Assistent im EU-Parlament verurteilt wurde, obwohl er in Wahrheit persönlich für Jean-Marie Le Pen tätig war.
Das muss selbstverständlich sanktioniert werden. Aber nicht in dem Ausmass, wie wir es gesehen haben. Es ist schädlich, den Menschen heute den Eindruck zu vermitteln, dass die Politik generell korrupt sei. Denn das Ergebnis dieses überzogenen Transparenzanspruchs ist, dass sich heute genau die Menschen nicht mehr engagieren, die man in der Politik am dringendsten brauchte: die interessantesten, klügsten, umsichtigsten, die, denen das Gemeinwohl am Herzen liegt – sie verzichten auf eine politische Karriere, weil sie denken, dass man sich dort nur Prügel einhandelt. Was ich heute einfach sehe, ist, dass das politische Personal in Frankreich immer mittelmässiger und kulturloser wird. Das liegt natürlich auch am Zusammenbruch unseres Bildungssystems, an der Verflachung unserer Zeit und an der Raserei der sozialen Netzwerke.
Sind Sie ein Kulturpessimist?
Georges Bernanos sagte: Die Optimisten sind die glücklichen Dummköpfe, die Pessimisten die unglücklichen Dummköpfe. Ich versuche, weder das eine noch das andere zu sein. Aber was die Kultur betrifft, sehe ich wirklich wenig Grund zur Hoffnung.