Die georgisch-deutsche Autorin Nino Haratischwili spricht über die Proteste in ihrer Heimat im Kaukasus. Sie hofft auf die Kraft der Jungen, etwas zu verändern, und fürchtet den unstillbaren Hunger Russlands.
Mit «Das achte Leben» hat die Autorin Nino Haratischwili 2014 eine Art «Krieg und Frieden» für Georgien geschrieben. Es ist die politische und gesellschaftliche Geschichte ihrer Heimat, die sie 2003 Richtung Deutschland verlassen hat. Von dort beobachte sie die Ereignisse in Georgien, Russland und der Ukraine mit ebenso viel Angst wie Hoffnung.
Sie thematisieren in Ihren Büchern sehr oft die Nachwirkungen von Krieg. Sie sind also quasi eine Expertin für das, was uns erwartet, wenn der Krieg in der Ukraine vorbei ist.
Das Land wird verwüstet sein, die Menschen traumatisiert. Es dauert Generationen, bis ein Krieg wirklich vorbei ist. Ein Land kann nicht einfach so heilen. Aber für die ganze Welt ist es ausschlaggebend, wer gewinnt. Ich hoffe, dass es die Ukraine sein wird.
In «Die Katze und der General» geht es um den Tschetschenienkrieg Mitte der 1990er Jahre. In dem Buch schreiben Sie, dass der Krieg eine neue Art von Mensch kreiert. Was meinen Sie damit?
Man weiss nie, wer man im Krieg sein wird. Es gibt Menschen, die unter extremsten Bedingungen Menschen bleiben und über sich hinauswachsen. Sie sind Ausnahmen. Bei den meisten löst Krieg eine Ungeheuerlichkeit aus. Es tauchen Eigenschaften auf, die sie selbst nicht in sich vermutet hätten. Es ist immer leicht, vom Sofa aus mit Pazifismus zu argumentieren. Man kann nur hoffen, nie herausfinden zu müssen, zu wem man wird, wenn einer einem eine Kalaschnikow an die Stirn hält.
Sie selbst haben den Krieg als Kind in Georgien erlebt. Was hat er aus Ihnen gemacht?
Alles, was ich bin, ist geprägt von damals. Es war schrecklich und traumatisierend. Und trotzdem habe ich auch eine gute Kindheit gehabt. Diese neunziger Jahre, diese omnipräsente Gewalt, da entwickelt man auch eine Resilienz. Mein junges Alter und meine Familie haben mich davor geschützt, alles zu verstehen. Würde ich das jetzt durchmachen, als Mutter, keine Ahnung, wie das wäre. Ich war aber 2008 da, als die Flugzeuge kamen und die Massenpanik ausbrach. Es war schockierend, denn es kam aus dem Nichts.
Sie waren in Georgien, als Russland 2008 angriff?
Ich habe bei meiner Cousine in Tbilissi übernachtet. Ihr kleiner Junge weckte mich und sagte: «Wir haben Krieg.» Ich dachte erst, er spielt. Und dann bin ich ins Wohnzimmer, und die ganze Familie sass vor dem Fernseher. Am Abend hatten wir noch zusammen gegessen und gelacht, und am nächsten Tag war Krieg. Ich wollte erfassen, was jetzt mit mir passiert: Ich verfiel in einen Aktionismus, um nicht in Panik oder Starre zu verfallen. So ging es vielen. Das Surrealste ist: Es ist Krieg – aber man muss sich trotzdem überlegen, was es zum Abendessen gibt.
2008 hat Russland Krieg gegen Georgien geführt, 2014 die Krim annektiert. Dennoch war der Westen sehr überrascht, als Putin die Ukraine angriff. Wie erklären Sie sich das? Schauen wir gerne weg?
Ja, der Westen – ich finde es erschreckend und traurig, dass es so viele Jahre lang Rechtfertigung für Putins Verhalten gab oder man einfach nicht hingucken wollte. Ich hoffe, dass konstant rollende Panzer verhindern, dass man auf das Narrativ des Putin-Verstehens zurückkommt. Oder den Krieg zum Hintergrundrauschen werden lässt. Obwohl es menschlich ist, dass das passiert. Wir sind Gewohnheitstiere. Aber Russland ist ein imperialistischer Staat mit blutrünstigen Ambitionen. Ein solcher Staat darf sich nicht ausdehnen.
Sie selbst sprechen Russisch und sind als Georgierin auch eng mit dieser Kultur verbunden. Lesen Sie noch russische Autoren?
Man muss differenzieren. Eine Anna Netrebko zu verbieten, die vom System profitiert und Putin dauernd die Hand geschüttelt hat, ist etwas anderes, als Tschechow zu canceln. Ich will wissen, wer mit wem auf welcher Bühne steht und was der dort sagt. Wenn jemand zufälligerweise auf Russisch schreibt – wo ist das Problem? Ich kann mir die Antwort selber geben: Jede Kunst ist politisch. Auch die banalste. Wir sind immer beeinflusst von unserer Umwelt. Ich versuche also einfach, kritisch zu bleiben.
Russische Propaganda verherrlicht den Krieg und verdreht die Schuldfrage. Wer rebelliert, wird zum Schweigen gebracht. Darf man die Russen als Volk überhaupt in die Pflicht nehmen?
Dass die Propaganda auf Hochtouren läuft, ist klar. Aber gerade die Jungen haben Zugriff auf Informationen, selbst wenn man nur Russisch spricht. Natürlich haben die Menschen dort Angst. Aber das ist nicht von heute auf morgen gekommen. Die meisten haben das zugelassen, sogar jahrelang mitgemacht, und irgendwann sassen sie in der Falle. Jetzt leben sie halt in einem Land, in dem man in Grundschulen paramilitärische Sportzentren gründet. Dort lernen Siebenjährige, sich darauf zu freuen, für die Heimat zu sterben. Das lassen ihre Eltern zu und finden das anscheinend gut.
Tausende Russen sind seit Beginn des Ukraine-Kriegs nach Georgien geflohen. Was halten Sie davon?
Ich warb sehr dafür, dass man Regimekritiker und Oppositionelle aufnimmt, auch Journalisten. Aber die Massen, die nach Georgien gekommen sind, sind nicht Oppositionelle, sondern Menschen, die es komfortabler haben wollen. Unsere Regierung hat versagt. Statt zu kontrollieren, wer kommt, haben nun alle ein Jahr Visafreiheit. Und die meisten kommen mit Geld. Die Mieten steigen, alle Lebenserhaltungskosten steigen. Es entsteht eine Parallelgesellschaft, sie haben ihre eigenen Bars und Cafés, in denen man kein Georgisch spricht. Gut, dass man sich nicht mischt, liegt vielleicht auch am Misstrauen der Georgier – man empfängt die Russen nicht mit offenen Armen.
Seit Wochen wird in Georgien gegen das Agentengesetz demonstriert, das die Regierungspartei Georgischer Traum des Milliardärs Bidsina Iwanischwili erlassen will und gegen das Georgiens Präsidentin ihr Veto eingelegt hat. Das Agentengesetz gleicht einem 2012 eingeführten russischen Gesetz, das nun zu einem zentralen Repressionsinstrument geworden ist.
Ich finde es furchtbar, was gerade passiert. Es ist so wichtig, dass die Proteste nicht aufhören. Und die jungen Menschen machen mir Hoffnung. Ich sehe diese Einheit, diesen Zusammenhalt, den Willen zum Kämpfen. Ich habe gerade heute ein Video gesehen von einer Grossmutter und ihrem Enkel: Die alte Frau trägt die EU-Fahne auf dem Rücken und das Kind die Georgien-Flagge. Das hat mich gerührt, denn so müsste es sein.
In Georgien hat man sich lange vor einem russischen Angriff gefürchtet. Nun erfolgte der Dolchstoss von innen.
Das ist unser hauseigener Brutus, das stimmt. Aber diese Brutusse werden ja durchaus in Russland geschmiedet und geformt. Welche Interessen hat die Partei? Woher kommt der Führer? Die 84 Menschen, die für das Gesetz gestimmt haben, die bekommen ihr Geld von einem Oligarchen. Woher hat er sein Geld? Russland. Diese Menschen sind durch Geld verbunden, sie teilen keine Ideologie.
Würden sie Ihnen weniger Angst machen, wenn sie aus ideologischen Gründen für Russland wären?
In dieser Banalität, dass es nur um Geld geht, liegt für mich die grösste Grausamkeit. Dieses Böse ist noch viel grausamer und schlimmer, als wenn es eine Ideologie gäbe. Als Autorin versuche ich immer, die Dinge aus verschiedenen Perspektiven zu beurteilen. Aber in dem Fall fehlt mir jedes Verständnis. Da erlaube ich mir zu sagen: Ich will die Menschen dieser Partei nicht verstehen. Das Gute ist: Georgien hat es im Oktober in der Hand, diese Menschen loszuwerden.
In «Das achte Leben» erklären Sie in einem mehrere Generationen umspannenden Epos die georgische Geschichte. Woher kommt die Nähe zu Russland – abgesehen von der Geografie?
Sie geht grösstenteils auf ein Abkommen von 1883 zurück: Nach dem Russisch-Osmanischen Krieg befürchtete der georgische König Erekle II. eine Invasion durch die Osmanen oder Perser. Um Georgien zu schützen, schloss er ein Protektoratsabkommen mit Zarin Katharina der Grossen. Ein wichtiger Grund für seine Entscheidung war, dass Russland die gleiche christlich-orthodoxe Religion hat wie Georgien. Aber Russland brach wesentliche Teile des Vertrags – etwa die Verteidigung Georgiens bei einem Angriff der Osmanen und Perser oder den Erhalt der georgischen Monarchie. Trotzdem war das eine Einladung für die Russen – man hat bloss nicht gewusst, dass man sie für Jahrhunderte einlädt.
Was kann Europa tun, damit Georgien nicht Russland in die Hände fällt?
Hunderttausende von Menschen gehen auf die Strasse. Ich wünsche mir, dass Europa diese Menschen sieht. Ich möchte, dass es Sanktionen gibt. Ich möchte, dass die Menschen, die dieses Gesetz erlassen haben, nun auch die Konsequenzen spüren. Mir ist klar, dass Europa limitiert ist. Aber so limitiert dann wiederum auch nicht. Ich möchte, dass die Proteste in Georgien nicht zu einem Hintergrundrauschen verkommen. Europa darf nicht vergessen: Russland kann man nie befriedigen.
Sie glauben, dass Putin nach der Ukraine auch weitere Staaten angreifen wird?
Russland wird immer mehr wollen. Den Hund zu machen, der sich auf den Rücken legt und die Beine in die Luft streckt, bringt nichts. Europa kann zusehen, wie die Staaten im Osten, die Teile sind von Europa, einer nach dem anderen fallen. Oder man kann sich dagegen wehren.