Am Sonntag gleiten am Engadin-Skimarathon über 10 000 Menschen über die Loipen. Doch wie geht Langlaufen richtig? Der Experte Adriano Iseppi gibt Tipps zu Materialwahl und Technik.
Adriano Iseppi, warum boomt der Langlauf?
Es hat sicher einen Zusammenhang mit der Corona-Pandemie, als die Leute versuchten, die Massen zu meiden. Wir haben im Engadin gesehen, dass es vielen Alpinfahrern in den vollen Gondeln unwohl war und sie deshalb auf Langlauf umstiegen. Und dann sind sie dabei geblieben. Es passt wohl auch zum heutigen Lifestyle, dass man sich gerne draussen bewegt.
Sie sprechen von vollen Gondeln, aber viele Leute wollen auch dem Dichtestress und den Rasern auf alpinen Pisten entgehen. Ist es auf den Loipen wirklich gemütlicher?
Es kommt sicher darauf an, wohin man geht. In der Nähe der Ballungszentren gibt es tatsächlich Loipen mit grosser Dichte. Aber im Engadin haben wir 220 Kilometer Loipen, da verteilt es sich extrem gut. Es hat schon Leute, aber das ist kein Vergleich zu den Skipisten. Und das Risiko, dass man von einem anderen verletzt wird, ist sehr klein.
Es gibt viele Umsteiger. Sind das ältere Semester? Ist Langlauf also ein Sport für Menschen ab 50?
Mich erstaunt im Gegenteil, dass viele Junge gewechselt haben. Sie haben anscheinend mit dem Skaten eine dynamische Bewegung gefunden, die ihren Bedürfnissen entspricht. Es sind zwar nicht die ganz Jungen, aber viele zwischen 30 und 40, die mindestens teilweise umgestiegen sind, das Langlaufen als Zweitsport entdeckt haben.
Gibt es grundsätzliche Unterschiede zwischen Langläufern und Alpinfahrern?
Früher war es sicher so. Bei den Alpinen war wohl der Tourengeher am ehesten mit dem Langläufer zu vergleichen. Jetzt hat eindeutig eine Durchmischung stattgefunden. Ich war ganz früher auch Alpinfahrer und staune, wie viele Kollegen von damals nun angefressene Langläufer sind. Aber klar, die Après-Ski-Typen findest du immer noch nicht auf der Loipe.
Wie sehr hilft es bei den ersten Versuchen auf Langlaufski, wenn man bereits Ski fahren kann?
Das Gleitverhalten, das Gleichgewicht, dass man sich auf nur einem Ski bewegen kann – all das hilft sehr, vor allem beim Skaten. Schlittschuhschritte braucht man ja auch beim Alpinskifahren. Es hilft auch, wenn man eine gewisse Sportlichkeit mitbringt. Wenn einer nur vom Spazieren kommt, hat er beim Langlaufen mehr Probleme, mit dem Gleichgewicht, aber auch mit der Fitness. Aber klar, man kann mit Klassisch-Ski auch Skiwandern, einfach spazieren mit kurzer Gleitphase. Da sind die Hürden beim alpinen Skifahren höher. Wenn du keine blaue Piste runterkommst, hast du ein Problem.
Und was bringt es, wenn man gut inlineskaten kann?
Dabei wird das Gleichgewicht sehr gut geschult, denn die Rollen der Skates sind noch viel schmaler als die Langlaufski, und man steht auch noch höher. Ausserdem trainiert man damit die Gewichtsverlagerung von einem Bein aufs andere, die man beim Skaten braucht.
Ist das Inlineskaten auch ein gutes Vorbereitungstraining für den Sommer oder Herbst? Oder kann man auch einfach andere Ausdauersportarten betreiben, wie Jogging oder Velofahren?
Inlinen ist spezifischer und hilft bei der Technik. Aber grundsätzlich reicht es, wenn man sich bewegt und den Puls hin und wieder beansprucht. Nordic Walking ist auch interessant, weil man dort die Arme einsetzt, nicht nur die Beine. Rollski sind ideal, weil man damit 1:1 das Langlaufen umsetzt. Aber wie beim Inlineskaten ist es schwierig, eine geeignete Strecke zu finden. Zu viel Verkehr ist nicht gut, und zu stark coupiert sollte die Strasse auch nicht sein, denn das Abwärtsfahren ist mit beiden Geräten ein Problem.
Wo braucht ein Langläufer mehr Power – in den Beinen oder im Oberkörper?
Beim Skaten sagt man, dass 70 bis 80 Prozent des Vortriebs aus den Beinen kommen. Klar: Wer es richtig macht, kann den Impuls der Arme auch einsetzen. Aber du hast schon grundsätzlich weniger Kraft in den Armen. Man sieht allerdings immer wieder, dass Leute die Arme zu sehr einsetzen. Das ist ein technischer Fehler – sie kämen besser vorwärts, wenn sie mit den Beinen ökonomischer arbeiten würden.
Für welche Art von Sport ist Langlauf im Winter ein gutes Alternativtraining?
Biker skaten gerne, weil es so beinlastig ist. Nino Schurter zum Beispiel schwört auf das Langlaufen im Winter. Auch für Velofahrer oder Ruderer ist das ein super Training. Selbst der frühere Marathonläufer Viktor Röthlin macht das heute häufig, weil es sehr gelenkschonend ist. Du hast keine Schläge, kannst vier Stunden laufen, ohne danach irgendwelche Beschwerden zu haben – ausser du hast eine unsaubere Technik.
Kann es sogar mehr als nur eine Alternative sein, weil zum Beispiel Jogger quasi gratis den sonst vernachlässigten Rumpf stärken?
Das ist definitiv so. Und beim Klassisch-Laufen trainiert man darüber hinaus auch die Fussgelenke, was für Läufer sehr wichtig sind. Klar, in den Armen und Schultern sollten Läufer nicht allzu muskulös sein, aber das wirst du auch nicht so schnell.
Welchen Stil würden Sie einem Anfänger empfehlen?
Dem absoluten Einsteiger, der nicht vom Skifahren kommt, würde ich zum Diagonalstil raten, also dem klassischen. Er kann über das Skiwandern in die Gleitbewegung hineinfinden. Wer die Bewegungserfahrung des Skifahrens nicht hat, kriegt den Aufkantwinkel fast nicht hin, den man beim Skaten braucht. Dann rutschen die Ski weg, und es ist wirklich ein Murks.
Und wer kann direkt mit Skaten anfangen?
Wer Eishockey gespielt hat oder Ski gefahren ist, wird beim Skaten sofort Spass haben. Das ist dynamischer, du kommst schneller vorwärts, du hast von Anfang an eine coole Bewegungserfahrung. Aber wenn sie Lust haben, können sich auch diese Leute auf den klassischen Stil einlassen. Das ist für mich die schönere Bewegung, du spürst die ganze Muskulatur, kannst den Oberkörper noch besser einsetzen.
Was ist technisch schwieriger?
Wenn man es richtig machen will, dann ist das klassische Laufen anspruchsvoller. Es braucht sehr viel, um ökonomisch zu laufen und richtig vorwärtszukommen. Auch ich bin da immer noch am Üben, obwohl ich schon sehr lange laufe. Ich komme ursprünglich von den Alpinen und habe erst mit 18 oder 19 intensiver mit dem Langlauf angefangen. Was du dir beim Abstoss aus dem Fussgelenk nicht schon als Kind angeeignet hast, kannst du später nur sehr schwer lernen. Aber wir reden hier von der Perfektion, die es braucht, um extrem effizient zu laufen. Einfach mal vorwärtskommen, das lernt man schnell.
Bringt es etwas, wenn ich mir die Spitzenläufer am TV anschaue, um von ihnen zu lernen, oder ist das eine völlig andere Welt?
Die Topathleten haben genau die Bewegung perfektioniert, die wir auch anwenden. Dass sie sich zum Beispiel beim Skaten bei jedem Schritt über die Mitte orientieren, oder wie sie im Oberkörper ruhig bleiben und nicht rotieren – das sind elementare Dinge, die extrem helfen. Ich sehe das bei meinem Kleinsten. Er ist fünfjährig und ahmt immer nach, was die am Fernsehen machen. Es ist krass, was er alles übernommen hat, obwohl wir nie etwas gesagt haben. Ich denke, dass Erwachsene auch so reagieren, weil das Auge sehr viel aufnehmen kann.
Sie haben erwähnt, dass vermehrt wieder Leute im Diagonalstil laufen, der lange Zeit als altbacken verpönt war. Gibt es Gründe für das Revival?
Ein Grund könnte sein, dass es noch gelenkschonender ist, denn beim Skaten hat man die Seitwärtsbewegung, die schnell auf die Knie oder sogar auf die Hüfte gehen kann, wenn man sie nicht sauber ausführt. Viele spüren beim Skaten die Muskulatur direkt vor dem Schienbein, weil sie verkrampft auf den Ski stehen oder einknicken. Läuft man klassisch, hat man das alles nicht; man wird geführt von der Loipe, und die Bewegung ist noch weicher.
Sportliche Gründe gibt es nicht?
Doch. Sobald man etwas dynamisch unterwegs ist, ist das Laufen im Diagonalschritt eleganter. Viele, die jetzt umgestiegen sind, sagen mir, sie spürten am Ende des Tages, dass sie etwas gemacht hätten. Wenn du beim Skating im Engadin Rückenwind hast, musst du ja nicht mehr viel tun, damit du vorwärtskommst.
Bei den Alpinski geht der Trend seit Jahren klar zur Miete. Gibt es im Langlauf gute Gründe, sich eigenes Material anzuschaffen?
Der Hauptgrund ist, dass die Ski dann passen. Sie werden im Geschäft so ausgesucht, dass sie ideal für das Gewicht des Läufers sind. Es ist entscheidend, dass der Ski weder zu hart noch zu weich ist. Bei einer Miete kann es in Stosszeiten passieren, dass die optimalen Ski schon weg sind. Der Preis kann auch eine Rolle spielen: Wenn man zwei, drei Jahre regelmässig läuft, hat man die Ski amortisiert. Und man geht vielleicht eher, wenn man sie im Keller hat.
Wie lautet die Faustregel für die richtige Skilänge?
Das ist keine Hexerei. Es gibt nicht so viele Varianten, vielleicht drei, vier Längen pro Marke. Die Ski sollten mehr als Körperlänge aufweisen, und Klassisch-Ski wählt man länger als Skating-Ski. Auch der Aufbau ist für beide Disziplinen anders. Wer beides laufen will, braucht also zwei Paar Ski.
Sie haben die Härte erwähnt. Es reicht also nicht, wenn ich nur auf die Länge schaue?
Wichtiger als die Länge ist, wie der sogenannte Flex des Skis ist. Wer schwer ist, braucht härtere Ski – im Klassisch und im Skating. Der Ski muss so durchgedrückt werden können, dass er auf der ganzen Länge gleitet. Beim Diagonalstil kommt hinzu, dass die Haftzone wirklich auf den Schnee kommen und Halt haben muss, sonst rutscht man beim Abstossen immer weg. Die richtige Härte findet der Sporthändler mit einfachen Tests, das ist schnell gemacht.
Wenn ich mich für Klassisch entscheide – soll ich mir Fellski kaufen?
Eigentlich schon. Wenn jemand häufig läuft, ist es bei Pulverschnee natürlich schöner, schneller und angenehmer mit richtig gewachsten Ski. Aber es sind wenige, die den dafür nötigen Aufwand betreiben. Es braucht 15 oder sogar 20 verschiedene Produkte, damit man immer den besten Wachs hat. Das ist eine Wissenschaft. Mit Fellski kannst du hingegen nichts falsch machen, die funktionieren immer zu 80, 90 oder sogar 95 Prozent. Die letzten fünf Prozent überlassen wir dem Rennläufer, soll er sich um die tausend Details kümmern.
Bringt es etwas, wenn man bei diesen Fellski trotzdem noch die Gleitzonen wachst?
Sicher. Das ist auch wichtig, damit der Ski nicht austrocknet. Und auch beim Diagonalstil geht es vor allem ums Gleiten, man hat nur einen kurzen Abstoss. Deshalb merkt man extrem, ob ein Ski gewachst ist oder nicht.
Wie häufig soll man Langlaufski wachsen?
Wenn man wirklich einen Genuss haben will, lohnt es sich, die Ski mehrmals pro Winter zu wachsen. Bei den Alpinen ist es ja häufig so, dass sie ihre Latten vor der Saison in den Service bringen, und das war’s dann. Langlaufski würde ich zwischendurch zwei- bis dreimal wachsen, jeweils nach 50 bis 100 Kilometern.
Lohnt es sich, das selber zu machen, oder ist man im Sportgeschäft besser bedient?
Gleitwachs ist eigentlich tubelisicher, das kann man selber auftragen. Früher gab es Gelb, Rot und Blau, wobei Rot bei etwa 80 Prozent der Verhältnisse passte. Wenn du roten Wachs und ein altes Bügeleisen hast, kannst du das selber machen. Einbügeln und abziehen – das ist keine grosse Kunst, und man kann damit etwas Geld sparen. Sportgeschäfte machen das natürlich professioneller, deshalb würde ich den Service jedes dritte Mal vom Fachmann machen lassen.
Es gibt Leute, die ihre Ski Ende Saison einwachsen und sie dann so in den Keller stellen. Ist das sinnvoll?
Sehr sogar. Das verhindert, dass der Belag über den Sommer austrocknet. Bevor man das erste Mal wieder auf die Loipe geht, zieht man das Wachs ab, und schon ist der Ski parat.
Wie wichtig sind im Langlauf die Schuhe?
Im Skating soll das Fussgelenk gut gestützt sein, damit man nicht abknickt. Da hat es in den letzten zehn Jahren eine Revolution gegeben, mit Carbon-Manschetten rund um den Knöchel zum Beispiel. Aber diese Schuhe sind auch teuer. Man kann beinahe 1000 Franken für einen Langlaufschuh ausgeben, aber das braucht es nicht, wenn man nur Genussläufer ist. Sicher braucht es zum Skaten einen Skating-Schuh, denn der Klassisch-Schuh ist wie ein Turnschuh, da hat man viel weniger Halt. Beim Diagonalstil braucht es hingegen eine weiche Sohle, damit man über den Fussballen abdrücken kann.
Warum sollen die superteuren Carbonstöcke besser sein als billigere Modelle?
Sie sind einfach viel leichter und darum angenehm. Aber sie sind auch weniger stabil und können brechen. Der Gewichtsvorteil ist eine Nuance, die der Hobbyläufer am Anfang gar nicht merkt. Man sollte sich überlegen, ob man dafür viermal mehr Geld ausgeben will als für normale Stöcke.
Worauf sollte man bei der Bekleidung unbedingt achten?
Funktionell sollte sie sein, damit vor allem im Oberkörper der Schweiss gut verdunsten kann. Beim Laufen hat man ja meistens nicht das Problem, dass man friert, aber danach sollte man sich möglichst rasch warm anziehen. Man kann gut die Jogging-Ausrüstung brauchen, und man sieht auch immer wieder Leute, die mit dem Bike-Leibchen laufen. Das funktioniert – nur den Einsatz bei den Hosen braucht man nicht unbedingt. Dazu Handschuhe und Kappe, aber die sollten nicht zu warm sein.
Langlauf ist ein Ausdauersport – wie wichtig ist da die Verpflegung?
Man sollte immer etwas dabeihaben, wenn man länger unterwegs ist und jede halbe, mindestens aber jede volle Stunde etwas zu sich nehmen. Es gibt Hüftgurte für den Getränkebidon, die spürt man im Gegensatz zum Joggen unterwegs überhaupt nicht. Da hat es auch ein Täschchen, in das man einen Riegel stecken kann und den Langlaufpass.
Ein universaler Wintersportler
Adriano Iseppi
Er kennt das Skifahren in allen Formen, fuhr Alpin- und Telemark-Rennen, war Biathlet und Langläufer. Später wurde er Trainer, von 2007 bis 2009 war er Disziplinenchef Langlauf bei Swiss Ski. Seit Jahren ist der 51-Jährige Langlaufexperte beim Schweizer Fernsehen und Rennleiter am Engadin-Skimarathon, der diesen Sonntag auf verkürzter Strecke stattfindet.