Jeder Zehnte leidet unter einem schleichenden Verlust der Nierenfunktion, der lange vor den ersten Symptomen beginnt. Endlich gibt es wirksame Medikamente. Doch die können ihre Wirkung nur entfalten, wenn man das Problem frühzeitig erkennt.
Unsere Nieren leisten Schwerstarbeit: Ohne Pause filtern sie unser Blut und scheiden Giftstoffe in Form von Urin aus. Ist das Nierengewebe allerdings geschädigt, lässt die Filterleistung nach, und wir laufen Gefahr, schleichend vergiftet zu werden. Vor einem kompletten Nierenversagen bewahren die Betroffenen in einem fortgeschrittenen Stadium bislang nur die regelmässige Dialyse oder eine Nierentransplantation.
Jetzt aber herrscht Aufbruchstimmung in der Nierenheilkunde, wie an der Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Nephrologie kürzlich zu erfahren war. Nach Jahrzehnten des Stillstands bei der Behandlung der chronischen Nierenkrankheit (chronic kidney disease – CKD) sind in den letzten fünf Jahren gleich drei neue, wirksame Wirkstoffklassen hinzugekommen.
Dabei handelt es sich erstens um sogenannte SGLT-2-Hemmer, welche den Blutzuckerspiegel senken. Sie wurden gegen Diabetes entwickelt, verlangsamen aber auch den Verlust der Nierenfunktion. Dieselbe Wirkung zeigte sich zweitens auch bei sogenannten selektiven Mineralokortikoid-Rezeptor-Antagonisten (MRA). Und drittens steht auch die sogenannte Abnehmspritze Semaglutid kurz vor einer Zulassung zur Behandlung der chronischen Nierenkrankheit.
Das sind gute Nachrichten für die geschätzt 770 Millionen Menschen, die weltweit an CKD leiden. Rund 10 Prozent der Bevölkerung sollen es sein, auch in der Schweiz und in Deutschland. Die Deutsche Gesellschaft für Nephrologie geht sogar von einer zusätzlichen Dunkelziffer aus. «Die chronische Nierenkrankheit ist deutlich unterdiagnostiziert und eine richtige Volkskrankheit. Nur wissen viele Betroffene nichts davon», sagt Julia Weinmann-Menke, Leiterin der Klinik für Nephrologie, Rheumatologie und Nierentransplantation am Universitätsklinikum Mainz.
Risikofaktoren auf dem Vormarsch
Verlässliche Zahlen fehlen, aber Fachleute gehen davon aus, dass die Häufigkeit der chronischen Nierenkrankheit in den vergangenen Jahrzehnten stark zugenommen hat. «Das liegt auf der Hand, denn die beiden wichtigsten Risikofaktoren Diabetes und Bluthochdruck sind weltweit ebenfalls auf dem Vormarsch», sagt Andrew Hall, Professor für Anatomie und Leiter des Zurich Kidney Center, eines Forschungsnetzwerks der Universität Zürich.
Sowohl ein zu hoher Blutdruck wie auch zu viel Zucker im Blut schädigen das Nierengewebe. Umgekehrt wirkt sich CKD negativ auf den ganzen Körper aus. So ist für die Betroffenen das Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Knochenbrüche erhöht. Ein Dialysepatient hat im Durchschnitt eine um mehr als 50 Prozent verkürzte Lebenserwartung im Vergleich zu einem gleichaltrigen Nierengesunden.
2016 lag die chronische Nierenkrankheit auf Rang 16 der weltweiten Todesursachen. Gemäss einer Studie wird sie bis 2040 auf Rang 5 vorrücken. Aber nicht nur die Lebensdauer, auch die Lebensqualität ist eingeschränkt, vor allem wenn mehrmals wöchentlich für vier Stunden eine Dialyse nötig ist. In Deutschland betrifft das geschätzte 100 000, in der Schweiz rund 5000 Personen.
Doch zurück zu den guten Nachrichten. «Dass die chronische Nierenkrankheit zu einer immer häufigeren Todesursache wird, muss nicht sein», sagt Hall. Denn die neuen Medikamente seien ein Riesenschritt nach vorne. Die medikamentöse Standardtherapie der letzten 20 Jahre bestand aus sogenannten RAAS-Blockern, die den Blutdruck senken. Vielen Betroffenen hätten diese aber nicht ausreichend geholfen und auch keinen grossen Schutz vor Herz-Kreislauf-Erkrankungen geboten.
Das ändert sich gemäss Hall nun mit der neuen Generation von Medikamenten. Zudem seien weitere Wirkstoffe in Entwicklung, die in den nächsten Jahren auf den Markt kämen. Hall hofft zudem, dass es möglich sein wird, die Medikamente noch gezielter an einzelne Patientinnen und Patienten anzupassen.
CKD – die oft verpasste Diagnose
Rückgängig machen lässt sich die Krankheit auch mit den neuen Medikamenten nicht, heutige Dialysepatienten werden weiterhin eine Blutwäsche benötigen. «Wer aber neu die Diagnose CKD erhält, darf darauf hoffen, deutlich später als bisher oder gar nie eine Dialyse oder Transplantation zu benötigen», sagt Hall.
Das gilt allerdings nur, wenn die Krankheit früh genug entdeckt und behandelt wird. Denn die neuen Medikamente sind umso hilfreicher, je früher sie eingesetzt werden. Und hier liegt das Problem: Betroffene merken oft erst etwas davon, wenn die Niere schon 70 Prozent oder mehr ihrer Funktion eingebüsst hat. Zudem können typische Symptome wie Übelkeit und Juckreiz auch auf andere Krankheiten hinweisen.
Dabei existieren zwei Biomarker – das Eiweiss Albumin im Urin und die auf Blutwerten basierende «geschätzte glomeruläre Filtrationsrate» –, mit deren Hilfe die chronische Nierenkrankheit einfach und zuverlässig zu diagnostizieren ist. «Nur geschieht dies viel zu wenig, sogar bei Risikogruppen wie Menschen mit Diabetes und Bluthochdruck», bemängelt Weinmann-Menke. Internationale Leitlinien sehen solche Tests für Risikogruppen zwar vor, die Realität sieht aber anders aus. Die Deutsche Gesellschaft für Nephrologie fordert deshalb ein Screening für alle Personen ab dem 35. Altersjahr.
Mangel an Spendernieren
Die neue Zuversicht in der Nierenheilkunde betrifft nicht nur neue Medikamente. Auch für Dialysepatienten sind Verbesserungen in Sicht. Die technische Entwicklung geht dahin, die Geräte für die Blutwäsche billiger, kleiner und sogar tragbar zu konstruieren. Damit würde die Dialyse zu Hause und sogar beim Spaziergang möglich. Bis es so weit sei, dauere es allerdings noch mindestens fünf bis zehn Jahre, schätzt Andrew Hall.
Für heutige Schwerkranke bleibt die Dialyse meist eine Behandlung bis ans Lebensende. Die perfekte Lösung ist das nicht. Denn die Dialyse ist für den Körper belastend und kann die Nierenfunktion nicht vollständig ersetzen. «Ideal ist und bleibt die Transplantation», sagt Andrew Hall. Doch die bleibt die Ausnahme: In Deutschland wurden im vergangenen Jahr 2122 Nieren transplantiert, in der Schweiz 372. Die Wartelisten sind lang, die Spenderzahlen gering. So warten Betroffene in Deutschland im Durchschnitt zehn, in der Schweiz drei Jahre auf eine neue Niere und müssen bis dahin weiter zur Dialyse.
Ob sich diese Situation in Zukunft verbessert, ist offen. In der Schweiz wurde 2022 in einer Volksabstimmung die Widerspruchslösung bei der Organspende angenommen. Demnach gilt in Zukunft als Organspender, wer sich zu Lebzeiten nicht explizit dagegen ausgesprochen hat. Die neue Regelung tritt frühestens 2026 in Kraft. Die Deutsche Gesellschaft für Nephrologie fordert auch für Deutschland die Widerspruchslösung und hofft dadurch auf mehr Spenderinnen und Spender.
Eine kürzlich veröffentlichte Studie ergab allerdings, dass ein Wechsel zur Widerspruchslösung nicht automatisch zu mehr Organspenden führt. Im Gegenteil zeigte ein weiterer internationaler Vergleich, dass in Ländern mit Widerspruchslösung der Anteil der Lebendspenden sogar niedriger liegt. Das ist gerade bei Nieren relevant – in der Schweiz machen Lebendspenden 27 Prozent aller Transplantationen aus. Forscher suchen derweil nach Alternativen, etwa der Transplantation von Schweinenieren oder künstlichen Nieren aus dem Labor.
Risikofaktor Klimawandel
Mit der demografischen Alterung wird die Zahl der CKD-Fälle wohl weiter steigen. Zudem nehmen gerade in ärmeren Ländern Risikofaktoren wie Diabetes, Bluthochdruck und Übergewicht stark zu. Gleichzeitig zeigt sich, dass der Klimawandel insbesondere in den Ländern des globalen Südens zu einem Treiber der Krankheit wird – denn auch Hitze geht auf die Nieren. Der Aufbruchstimmung dank neuen Therapieoptionen stehen also Entwicklungen gegenüber, die unsere Nierengesundheit bedrohen.
Wer seinen eigenen Nieren präventiv etwas Gutes tun will, achtet auf eine gesunde, salzarme Ernährung, genügend Bewegung, verzichtet aufs Rauchen und hält Mass bei Schmerzmitteln und anderen Medikamenten, welche die Nieren schädigen können. Zudem empfiehlt sich, Blutdruck und Blutzucker in gewissen Abständen kontrollieren zu lassen. Bei Risikofaktoren wie Diabetes oder Bluthochdruck ist ein jährlicher Blut- und Urintest sinnvoll. Denn auch für unsere pausenlos arbeitenden Filterorgane gilt: Vorsorge ist besser als Heilung.
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