Der US-Aktienmarkt hat in den eineinhalb Jahrzehnten seit der globalen Finanzkrise den Rest der Welt um Längen geschlagen. Die Diskrepanz hat historische Extremwerte erreicht. Kann das von Dauer sein?
«Wir müssen das Offensichtliche diskontieren und das Kapital in Richtung des Unerwarteten lenken.»
George Soros, ungar.-amerik. Investor und Philanthrop (*1930)
MAGA – Make America Great Again. Donald Trump verspricht, Amerika wieder gross zu machen.
Doch zumindest mit Blick auf die Börsen wird der künftige Präsident mit dieser Aufgabe schon an seinem ersten Amtstag arbeitslos sein. Amerikas Aktienmarkt glänzt, während der Rest der Welt immer weiter zurückfällt. Nie war die Dominanz der USA grösser als heute.
Der S&P 500 hat seit Anfang 2024 gut 27% gewonnen und ist auf dem Weg dazu, die beste Kalenderjahr-Leistung im laufenden Jahrtausend zu erreichen; diesen Titel trägt bislang das Jahr 2013 mit einer Avance von 29,6%. Andere Indizes wie der Swiss Market Index, der Stoxx Europe 600 oder der MSCI Emerging Markets sind weit abgeschlagen.
Auf den ersten Blick erscheint das durchaus sinnvoll. Amerikas Wirtschaft brummt. Europa findet dagegen nicht aus der Misere: Deutschland, politisch führungslos, siecht seit zwei Jahren in einem latent rezessiven Zustand, während sich Frankreich gerade selbst demontiert. Chinas Regierung enttäuscht die Märkte derweil seit bald zwei Jahren ohne Unterbruch; die zweitwichtigste Volkswirtschaft der Welt steckt in einer hartnäckigen Deflation fest.
Aber die USA preschen voran. Die seit 2022 mehrmals angekündigte Rezession hat sich nie materialisiert. Der heute Freitag publizierte Arbeitsmarktbericht bestätigt das Bild: Die US-Wirtschaft hat im November mit 227’000 mehr neue Stellen geschaffen als erwartet. Die Arbeitslosenrate verharrt auf 4,2%.
«American Exceptionalism», lautet der geflügelte Begriff. Amerikas Aktienmarkt spielt in einer eigenen Liga, er ist besser, einzigartig. Wer als Investor die USA im Portfolio untergewichtet hat, verliert – und das seit Jahren.
Ist das die neue Normalität? Dieser Frage gehen wir im dieswöchigen «Big Picture» nach. Zudem werfen wir einen Blick auf China sowie auf die Zinsen in der Schweiz.
In der ersten Märzwoche des Jahres 2009, mitten im Sturm der globalen Finanzkrise, markierte der S&P 500 seinen Tiefpunkt auf einem Intraday-Stand von 666. Seither sind fast 16 Jahre vergangen – und der amerikanische Leitindex hat sich in diesem Zeitraum beinahe verzehnfacht.
Zwar erlitt der Index während dieser Zeit durchaus heftige Rückschläge – beispielsweise 2018, im Covid-Frühjahr 2020 oder im Jahr 2022 –, doch insgesamt betrachtet hat der US-Aktienmarkt in den eineinhalb Jahrzehnten seit der Finanzkrise eine phänomenale Hausse erlebt.
In welchem Ausmass er alle anderen Märkte in den Schatten gestellt hat, zeigt der Vergleich mit den Indizes in Europa, Japan, Schwellenländern sowie mit dem Weltindex ohne die USA (MSCI ACWI ex US). Eine wahrlich einzigartige Leistung:
Eine naheliegende Erklärung dafür könnte der Siegeszug der grosskapitalisierten amerikanischen Tech-Werte wie Microsoft, Apple, Amazon oder Nvidia sein, für die sich über die Jahre Akronyme und Bezeichnungen wie FANMAG oder «Magnificent Seven» etabliert haben. Doch auch in der Betrachtung der gleichgewichteten Indizes, in denen der Effekt der «Mega Caps» ausgeblendet wird, thront der amerikanische Aktienmarkt weit über dem Rest der Welt.
Für aktive Fondsmanager waren die vergangenen 16 Jahre brutal. Wer in globalen Mandaten die USA untergewichtet hatte, hat verloren.
Mittlerweile hat die Dominanz des US-Marktes extreme Züge angenommen. Die Vereinigten Staaten stehen für rund 27% der globalen Wirtschaftsleistung, aber im MSCI All Country World Index, der die Aktienmärkte aus 23 Industrie- und 24 Schwellenländern umfasst, kommen die USA derzeit auf ein Gewicht von fast 67%. Der Markt mit dem zweitgrössten Gewicht, Japan, kommt auf 4,7%. Das ist nur unwesentlich mehr, als Apple oder Nvidia auf die Waage bringen. Neun der zehn Konzerne mit dem grössten Gewicht im Weltindex stammen aus den USA; nur die Chipschmiede TSMC aus Taiwan schafft es in die Top Ten.
Relativ zum Rest der Welt hat die Performance des US-Aktienmarktes gemäss Daten von Bank of America ein Niveau erreicht, das mindestens in den letzten 75 Jahren nie zu beobachten war. Selbst die «Nifty Fifty»-Blase der frühen Siebzigerjahre und die Dotcom-Blase zur Jahrtausendwende sehen dagegen wie unbedeutende Vorgebirge aus:
Aus geopolitischer Perspektive mag von einer multipolaren Weltordnung gesprochen werden, doch aus reiner Finanzmarkt-Perspektive ist die Welt so unipolar wie nie zuvor: Das Anlagekapital strömt aus der ganzen Welt nach Wallstreet.
Die Sonderstellung der USA manifestiert sich in der Bewertung. Basierend auf den Gewinnschätzungen für die kommenden zwölf Monate wird der S&P 500 derzeit mit einem Kurs-Gewinn-Verhältnis (KGV) von 22,5 bewertet. Der Weltindex ohne USA kommt auf ein KGV von weniger als 14.
Auch im Vergleich zur eigenen Historie ist der US-Markt hoch bewertet. Gemessen am zyklisch-adjustierten KGV, nach dem Yale-Ökonomen Robert Shiller auch als Shiller-P/E bekannt, waren amerikanische Aktien in den vergangenen 124 Jahren nur ein einziges Mal höher bewertet als heute: 1999 und Anfang 2000, kurz vor dem Platzen der Dotcom-Blase. Nicht einmal im Spätsommer 1929, am Vorabend der Grossen Depression, war der US-Markt so teuer wie heute.
Das mag alarmistisch klingen. Deshalb an dieser Stelle eine wichtige Feststellung: Die Bewertung ist als Timing-Indikation für Wendepunkte an den Märkten nutzlos. Aktien können jahrelang über- oder unterbewertet sein – das mussten zahlreiche Value-Investoren in den vergangenen Jahren schmerzlich erfahren. Die obige Aussage, wonach US-Aktien kaum je zuvor so teuer waren wie heute, konnte man bereits 2019 machen. Oder 2023. Und immer lag man falsch, wenn man aus Bewertungsüberlegungen anderen Märkten den Vorzug gab.
Die Hausse in den USA zeigt bis dato keine Ermüdungserscheinungen. Sie ist gesund und breit abgestützt – das heisst, sie wird von vielen Einzeltiteln getragen –, wie der Marktbeobachter Alfons Cortés schreibt. Es spricht also wenig dafür, dass die Party unmittelbar vor ihrem Ende stehen könnte.
Die relevante Frage ist vielmehr: Ist die Sonderstellung der USA in der Anlagewelt gerechtfertigt, und wird sie dauerhaft sein? Dafür gibt es durchaus Argumente.
Der Bull Case:
- Keine Volkswirtschaft besitzt auf dem Gebiet der Hochtechnologie bessere und innovativere Unternehmen als die USA. Amerika innoviert, China imitiert, Europa reguliert: Das wird auch so bleiben und spricht für einen dauerhaften Vorsprung der USA.
- Künstliche Intelligenz (KI) ist eine Revolution, die enorme Produktivitätsfortschritte ermöglichen wird. Kein anderes Land ist besser aufgestellt, um davon zu profitieren. Zudem kommt niemand, der auch nur ansatzweise mit KI arbeiten will, an den Chips von Nvidia vorbei.
- Die Tech-Giganten von heute haben – in einigen Fällen abgesehen von ihrem Namen – nichts mit den Tech-Unternehmen der Dotcom-Blase vor 24 Jahren zu tun. Microsoft, Alphabet, Meta, Amazon, Nvidia oder Apple halten derart dominante Marktpositionen, dass ihre Gewinnkraft von Konkurrenten kaum angegriffen werden kann.
- Nirgends ist das Umfeld unternehmensfreundlicher als in den USA. Und unter Donald Trump wird es noch besser. Er senkt die Steuern, während sein «Best Buddy» Elon Musk den Staatsapparat säubert und von Regulierungen und renitenten Beamten befreit. All das führt dazu, dass den Gewinnmargen amerikanischer Unternehmen ein dauerhaft höheres Niveau zugestanden werden muss als ihren internationalen Pendants.
- In einer Welt von Lahmen (China, Deutschland) und Alten (Japan, Korea) bietet Amerika die mit Abstand besten Wachstumsattribute.
Sogar einer der grössten Skeptiker unter den Wallstreet-Auguren ist eingeknickt und räumt ein, dass diese Argumente von Dauer sein könnten: David Rosenberg, Gründer der kanadischen Boutique Rosenberg Research, schrieb diese Woche in einem Kundenbrief mit dem Titel «Lament of a Bear» («Klagelied eines Bären»), er wolle fortan «unvoreingenommen sein» und die Möglichkeit in Betracht ziehen, dass der laufende Boom am US-Markt noch viel länger dauert als sich «irgendjemand denken» könne.
Allerdings stehen auch gewichtige Argumente dagegen.
Der Bear Case:
- Die US-Finanzmärkte im weiteren Sinn zeigen alle Signale einer spekulativen Blase. Die Stimmung ist euphorisch, die Bären – siehe Rosenberg – sind ausgestorben. Die exotischsten Kryptowährungen sind ein Paradies für Zocker, der Meme-König «Hello Kitty» ist wieder da und treibt seine Anhänger in Aktien wie Gamestop, Unity Software oder Clear Secure. Das klingt alles wie 2021. Die Manie endete damals in Tränen, und das wird dieses Mal nicht anders sein.
- «Es gibt keine neuen Epochen. Exzesse sind nie von Dauer» und «Die Märkte tendieren dazu, mit der Zeit zum Mittelwert zurückzukehren», lauten zwei der wichtigsten Regeln von Bob Farrell, des legendären früheren Research-Chefs von Merrill Lynch. Die Rückkehr zum Mittelwert ist eine der konsistentesten Kräfte in der Welt freier Märkte. Keine Sonderstellung hält ewig.
- KI mag durchaus eine Revolution sein, die eines Tages grosse Produktivitätsfortschritte ermöglicht. Doch das schützt die Akteure auf dem Feld nicht vor desaströsen Überinvestitionen. Das wichtigste Buch für Investoren zum Thema KI heisst «Engines that Move Markets», von Alasdair Nairn. Es hat nichts mit KI zu tun. Vielmehr zeigt der Autor darin, was allen neuen Technologien in den vergangenen zwei Jahrhunderten – Eisenbahnen, Radiotechnik, Internet – an den Finanzmärkten gemein war: Es kam zu einem «Boom & Bust»-Investitionszyklus, und erst in den Überresten der geplatzten Blase kamen die langfristig robusten Geschäftsmodelle zum Vorschein. 2025 könnte für KI zum Jahr der Entscheidung werden.
- Performance ist relativ. Der US-Aktienmarkt kann auch deshalb so viel Kapital anziehen, weil weite Teile der restlichen Welt in einem erbärmlichen Zustand sind. Aber Chinas Parteiführung könnte nach einer Reihe enttäuschender Jahre endlich begriffen haben, dass sie das Ruder herumreissen muss. Die neue Regierung Deutschlands nach den Wahlen von Ende Februar könnte der drittwichtigsten Volkswirtschaft der Welt ebenfalls den benötigten Ruck verpassen. Vielleicht begreift sogar endlich eine Regierung in Berlin einmal, dass der riesige Leistungsbilanzüberschuss Deutschlands nicht primär Ausdruck beneidenswerter Wettbewerbsfähigkeit, sondern vielmehr Zeichen einer chronischen inländischen Nachfrageschwäche ist.
- Während die USA priced for perfection sind, sind weite Teile der restlichen Welt priced for disaster. Da reichen geringfügige Überraschungen, um die Kapitalströme in eine andere Richtung zu leiten.
Wir können nicht sagen, welche der beiden Argumentationslinien gewinnen wird. Wie erwähnt: Die Hausse in den USA steht auf einer breiten Basis. Sie ist gesund. Es ist durchaus möglich, dass der Höhenflug noch eine ganze Weile weiter geht.
Doch am Ende beruht der Bull Case doch auf einer gewagten Prämisse. Nämlich, dass es dieses Mal anders ist und dass die historischen Muster nicht mehr gelten. This Time is Different.
Es ist uns bewusst, dass man nicht gegen die USA wetten sollte. Aber noch weniger sind wir bereit, gegen die Historie zu wetten.
Die Konjunkturschwäche in China ist ein wichtiger Grund, weshalb zahlreiche Schwellenländer und Rohstoffsegmente an den Börsen nicht vom Fleck kommen. Die Immobilienkrise beschäftigt das Land nun seit 39 Monaten – nie zuvor sind die Preise von Wohnimmobilien auf dem Sekundärmarkt so lange ohne Unterbruch gesunken, wie Christian Gattiker-Ericsson, Chefstratege von Julius Bär, zeigt:
Ein zweiter historischer Rekord ereignete sich diese Woche am Bondmarkt: Erstmals überhaupt ist die Rendite zehnjähriger chinesischer Staatsanleihen unter 2% gefallen.
Das ist Ausdruck der deflationären Tendenzen und der chronischen Nachfrageschwäche im Land. Der kurze Effekt nach der «Whatever It Takes»-Ankündigung von Ende September ist bereits verpufft.
Der inländische Kreditschöpfungs-Mechanismus springt nicht an. Der von Bloomberg ermittelte China Credit Impulse Index, der die Kreditschöpfung ins Verhältnis zum Bruttoinlandprodukt setzt, rutscht immer weiter ab.
China zeigt die klassischen Signale einer Liquiditätsfalle. Aus dieser kann sich die Wirtschaft erst lösen, wenn die Regierung viel konkretere Massnahmen nur Stützung der inländischen Nachfrage auf den Weg bringt. Kommende Woche hat die Parteiführung die Gelegenheit, die Weichen für 2025 zu stellen. An der jährlichen Central Economic Work Conference, die jeweils im Dezember stattfindet und die Wirtschaftspolitik für das neue Jahr definiert, wird Generalsekretär Xi Jinping seine Prioritäten setzen können.
Auf die zweitägige Sitzung folgt in der Regel kein offizielles Communiqué; die konkreten Ziele werden erst im März kommuniziert. Doch die Finanzmärkte werden es spüren, wenn kommende Woche grosse Massnahmen beschlossen werden.
In Sachen Zentralbank-Entscheidungen stehen die Finanzmärkte vor zwei Superwochen. Am nächsten Dienstag fällt die Notenbank Australiens ihren Zinsentscheid, am Mittwoch folgt die Bank of Canada, am Donnerstag die Europäische Zentralbank und die Schweizerische Nationalbank – bevor in der Folgewoche die US-Notenbank und die Bank of Japan auf der Agenda stehen.
Die SNB dürfte den Leitzins um abermals 25 Basispunkte auf 0,75% senken. Es wäre die vierte Zinssenkung in diesem Jahr. Wer weiss, vielleicht beschliesst das Gremium um Martin Schlegel sogar einen Jumbo-Schritt von einem halben Prozentpunkt. Der starke Franken schmerzt, die Misere Deutschlands und Frankreichs hat den Euro auf unter 93 Rappen fallen lassen.
Der schweizerische Bondmarkt jedenfalls signalisiert bereits, welche Destination er für die Reise sieht: Die Rendite fünfjähriger Schweizer Staatsanleihen ist schon fast wieder auf 0% gefallen.
Immobilienbesitzer dürfen sich freuen. Wer hätte noch vor wenigen Monaten gedacht, dass die Schweiz schon so bald wieder Nullzinsen sehen würde?
Er war der lehrreichste Historiker und witzigste Geschichtenerzähler, den Wallstreet je gekannt hat: Art Cashin war mehr als fünf Jahrzehnte lang eine nicht wegzudenkende Persönlichkeit auf dem Parkett der New York Stock Exchange (NYSE). Er wurde im Alter von 23 Jahren Mitglied an der NYSE, arbeitete viele Jahre als Chefhändler von Paine Webber am Ring und gelangte zur Jahrtausendwende zur UBS, als die damals aufstrebende Schweizer Grossbank das US-Brokerhaus kaufte.
Seine täglichen Börsenkommentare, «Cashin’s Comments», gehörten für unzählige Investoren und Marktbeobachter – auch für das Team von The Market – zur höchst geschätzten Pflichtlektüre. Sie begannen stets mit einer amüsanten, erhellenden historischen Reminiszenz. Cashin war erfrischend frei von Dogmen, er wurde von Bullen und Bären, von Demokraten und Republikanern gleichermassen geliebt.
Art Cashin ist vergangene Woche im Alter von 83 Jahren gestorben. Rest in Peace.