Über das alltägliche Leben in Schwedens gefährlichsten Quartieren.
An einem Mittwochnachmittag im April bekommt Aneta Demir einen Anruf. Am anderen Ende ist ihr Mann, aber für einen Moment glaubt Demir, dass sich ein Fremder verwählt haben muss. «Er sagte, mein Bruder sei angeschossen worden. Das ergab keinen Sinn. Wieso sollte jemand auf Mikael schiessen?»
Nur wenige Minuten vorher ist Mikael unterwegs ins Schwimmbad. Mit seinem 12-jährigen Sohn radelt er gegen 18 Uhr durch eine Unterführung in Skärholmen, einem Vorort von Stockholm. Sie fahren vorbei an einer Gruppe von Jugendlichen. Etwas irritiert Mikael. Er kehrt um, will die Teenager zur Rede stellen. Kurz darauf ist er tot. Erschossen. Vor den Augen seines 12-jährigen Sohnes.
Wieso sollte jemand auf einen unbescholtenen Vater schiessen? Diese Frage beschäftigt seither nicht nur Aneta Demir, sondern ganz Schweden.
Die Bandenkriminalität im Land eskaliert. In vielen Vorstädten haben Kriminelle die Kontrolle übernommen. Immer öfter trifft die Gewalt auch Unbeteiligte. Menschen wie Mikael. Um zu verstehen, was in Schweden gerade geschieht, muss man dorthin fahren, wo es geschieht – wo geschossen, gesprengt, gemordet wird.
Von der Stockholmer Innenstadt dauert die Fahrt nach Skärholmen und ins benachbarte Botkyrka, wo Aneta Demir lebt, mit der U-Bahn eine gute halbe Stunde. Durch das Fenster sieht man niedrige Plattenbauten, Spielplätze, schachtelförmige Einfamilienhäuser, alte Apfelbäume. Bullerbü statt Bandenkrieg. Doch der Schein trügt. Jede U-Bahn-Station werde von einer oder mehreren Gangs kontrolliert, wird Demir, die ihr ganzes Leben in den Vororten verbracht hat, später erzählen.
Trauer
Eine Sonnenbrille und eine Dose Snus-Tabak: Das ist alles, was Aneta Demir von ihrem Bruder geblieben ist. Sie stehen auf einem Regal in ihrem Wohnzimmer, neben Trauerkarten und einem Foto von Mikael. Ein Altar, der daran erinnert, was niemand in diesem Haus vergessen kann: dass Mikael mit 39 Jahren von einem Teenager in seinem Wohnquartier umgebracht wurde. Dass sein Sohn die Tat bezeugen musste. Dass sich die Familie nicht verabschieden konnte. Dass er nie mehr zurückkommt.
Aneta Demir fällt es schwer, darüber zu sprechen. Trotzdem tut sie genau das: Sie gibt Interviews, lässt die Öffentlichkeit an ihrer Trauer teilhaben. Sie hat Tränen in den Augen, muss mehrfach tief durchatmen, bevor sie weitersprechen kann. Ihr Mann Elias springt ein. Er sagt: «Wir wollen nicht, dass Mikael nur eine weitere Zahl in der Statistik ist. Wir wollen, dass die Menschen wissen, wen wir verloren haben.»
Aneta und Mikael wuchsen in den achtziger Jahren als Kinder polnischer Einwanderer in Skärholmen auf. Demir erinnert sich an ein nettes und ruhiges Wohnquartier. Sie sagt: «Schweden war damals ein Land der Möglichkeiten.» Ihre Eltern waren auf der Suche nach einem besseren Leben ausgewandert. Während Mutter und Vater mehreren Jobs nachgingen, verbrachten die Geschwister viel Zeit draussen mit Freunden, sie kletterten auf Bäume, gingen ins Schwimmbad. Das gleiche, vor dem Mikael Jahrzehnte später erschossen werden sollte.
Heute ist vom «netten und ruhigen Wohnquartier» nicht mehr viel übrig. Schweden hat sich verändert. In den achtziger Jahren nahm die selbsternannte «humanitäre Supermacht» Zehntausende Flüchtlinge aus Chile, dem Irak und Iran auf. In den neunziger Jahren kamen hunderttausend Menschen aus Ex-Jugoslawien hinzu. Die schwedischen Vorstädte wurden zu einem Schmelztiegel verschiedener Kulturen. Das Zusammenleben funktionierte lange gut – bis es zu einem Bruch kam.
Während der Flüchtlingskrise 2015 kamen innert eines Jahres 160 000 Asylsuchende nach Schweden. Statt die Menschen zu integrieren, überliess das Land die Ankommenden weitgehend sich selbst und pferchte sie in den Vorstädten zusammen. In Skärholmen liegt der Ausländeranteil heute bei 84 Prozent. Die Segregation – darin sind sich inzwischen alle von links bis rechts einig – ist mitverantwortlich für die Bandenkriminalität.
«Mikael hatte die gesellschaftliche Entwicklung satt, er war wütend», sagt Demir. In Schweden getrauten sich viele nicht zu sagen, was sie dächten. Nicht so Mikael. «Er war ein netter Mensch, alle haben ihn gemocht. Aber er stand immer für das ein, was er für richtig hielt. Er hatte keine Angst.»
Angst
Aneta Demir lebt in ständiger Angst. Sie fürchtet sich davor, dass ihren Kindern etwas zustossen könnte. Und sie hat Angst, dass ihre Kinder zu Tätern werden könnten. Die Söhne der Demirs sind 14 und 15 Jahre alt, die Tochter ist 8. Seit Mikaels Tod lebt auch dessen 12-jähriger Sohn bei der Familie. Demir sagt: «Ich habe meine Söhne gefragt, was sie daran hindert, mit einer Waffe herumzulaufen und auf Leute zu schiessen. Sie hielten das für eine dumme Frage.» Doch so dumm ist sie nicht, wenn man die Statistiken betrachtet.
Immer öfter sind es Kinder und Jugendliche, die dealen, Sprengstoffanschläge verüben und morden. Die kriminellen Banden rekrutieren Minderjährige, weil unter 15-Jährige in Schweden nicht bestraft, sondern therapiert werden. Für einen Mord drohen drei Jahre in einem geschlossenen Jugendheim. Im Gegenzug versprechen die Gangs den Teenagern Geld und Anerkennung. Die Masche funktioniert: Laut der Polizei sind 13 Prozent aller aktiven Gangmitglieder in Schweden minderjährig. Das sind 1700 Jugendliche.
Der mutmassliche Mörder von Mikael war zum Tatzeitpunkt 17 Jahre alt. Der Polizei ist er seit Jahren bekannt: Er wurde bereits eines Raubüberfalls und der Körperverletzung verdächtigt, wegen Drogendelikten verurteilt. Der Sozialdienst dokumentierte eine «eskalierende Entwicklung». Im Dezember 2023 soll er versucht haben, einen anderen Mann zu töten. Die Polizei fasste ihn zu spät. Mit fatalen Folgen.
Junge Männer wie ihn gibt es in Schwedens Vorstädten viele. In Alby und Skärholmen sind die Gangs überall: in der Schule, auf den Strassen, im Einkaufszentrum. Und im Internet. Demir macht sich keine Illusionen: «Auch meine Kinder sind bestimmt schon in Kontakt gekommen mit Kriminellen.»
Um sie zu schützen, haben Aneta und Elias Demir klare Regeln aufgestellt: nicht durch eine Unterführung gehen, wenn dort andere Personen sind. Weitergehen, wenn du auf der Strasse angesprochen wirst. Den Eltern immer sagen, wo und mit wem du unterwegs bist. Neue Freunde zu Hause vorstellen. Niemandem einen Gefallen tun. Niemandem vertrauen.
So empfiehlt es auch die schwedische Polizei. Trotzdem zweifelt Aneta Demir. Sie sagt: «Es fühlt sich falsch an, so sind wir selbst nicht aufgewachsen.» Das Leben von Teenagern ist immer ein Balanceakt zwischen Freiheit und Kontrolle. In den schwedischen Vorstädten kann er tödlich enden. Allen Regeln, die die Demirs ihren Kindern auferlegt haben, zum Trotz kommt es immer wieder zu gefährlichen Situationen. Die letzte ist nur wenige Wochen her.
Etwa hundert Meter vom Haus der Demirs entfernt werden ihr 14-jähriger Sohn und ihr 12-jähriger Neffe – Mikaels Sohn – in einer Unterführung von anderen Jugendlichen gestoppt. Die Cousins sind unterwegs auf einem E-Scooter – ein langersehntes Geburtstagsgeschenk, das der 14-Jährige gerade erst von der Grossmutter bekommen hat. Die jugendlichen Gangster verlangen das Gefährt, sie sagen, sie hätten eine Waffe.
Eine weitere Regel, die die Demirs aufgestellt haben, lautet: Wenn du überfallen wirst, wehre dich nicht. Aneta Demirs Sohn tut es trotzdem. Er hat lange auf den teuren Scooter gewartet und weigert sich, ihn aus der Hand zu geben. Er hat Glück: Passanten alarmieren die Polizei, und die Täter flüchten. Als die Einsatzkräfte eintreffen, sind sie längst weg. Den Scooter können die Buben behalten – zum Preis einer Angst, die sie nun überallhin verfolgen wird.
Ohnmacht
Nach Mikaels Tod pilgert die politische Elite Schwedens nach Skärholmen. Der Ministerpräsident Ulf Kristersson verspricht vor laufenden Kameras, «alles Notwendige zu tun, um die Mörder zu stoppen». Der Justizminister Gunnar Strömmer kündigt an, die lokale Polizei zu stärken. Die Oppositionsführerin Magdalena Andersson veranstaltet am Tatort eine Medienkonferenz. Es ist eine öffentlichkeitswirksame Show, die der Bevölkerung signalisieren soll: Das hier ist ein Wendepunkt. Für Aneta Demir ist es ein Déjà-vu.
Im August 2020 wurde in Botkyrka ein 12-jähriges Mädchen getötet – Adriana, die Tochter von Aneta Demirs bester Freundin. Sie führte ihren Hund spazieren, als sie aus einem vorbeifahrenden Auto erschossen wurde. Adriana hatte keine Verbindung zu den Gangs. Auch damals kamen die Politikerinnen und Politiker in Scharen und versprachen, der Bandenkriminalität ein Ende zu setzen. «Passiert ist nichts», sagt Demir.
Das bezeugt auch die Statistik. 2020 starben in Schweden bei Schiessereien 47 Personen. Ende September dieses Jahres liegt die Zahl der Schiessereien bereits bei 222. 36 Personen starben, 47 wurden verletzt. Hinzu kommen 84 Sprengstoffanschläge und eine unbekannte Anzahl von Raubüberfällen, Einbrüchen, Drogengeschäften und Diebstählen.
An Orten wie Botkyrka und Skärholmen sind die Gewalt und die Kriminalität etwas Alltägliches geworden. Neben der Eingangstüre der Demirs prangt ein Kleber, der auf eine Alarmanlage aufmerksam macht und Kriminelle abschrecken soll. Eingebrochen worden sei trotzdem einmal. Fast täglich kreise über dem Quartier ein Polizeihelikopter. «Wenn ein Jugendlicher mit einer Sturmhaube vorbeirennt, schrecke ich nicht einmal mehr auf», sagt Demir.
In den Vororten verschwinden Geschäfte und damit Arbeitsplätze. In vielen Schulen herrscht Chaos. «Lehrpersonen lassen immer wieder Stunden ausfallen, weil einige Schülerinnen und Schüler den Unterricht stören und die Lehrer nicht befugt sind, die Störenfriede aus dem Klassenzimmer zu verweisen», sagt Demir. Darunter leiden auch jene Kinder und Jugendliche, die lernen wollen, um später im Leben eine Perspektive zu haben. Die Perspektivlosigkeit nutzen die Gangs aus. Ein Teufelskreis.
Elias Demir wählt seine Worte behutsam, wenn er sagt: «Wenn weder die Regierung noch die Polizei uns beschützen können, werden normale Leute die Sache irgendwann selbst in die Hand nehmen.» Auch er habe sich Gedanken darüber gemacht, eine Waffe zu kaufen, um seine Familie zu schützen – und sich dagegen entschieden. Zumindest vorerst. «Es fühlt sich falsch an. Wenn wir diesen Weg gehen, dann enden wir in einer wirklich schlimmen Situation.»
Die Ohnmacht der Politiker spiegelt sich in ihren gegenseitigen Schuldzuweisungen. Laut der Sozialdemokratin Magdalena Andersson agiert die Regierung planlos. Der konservative Ministerpräsident Ulf Kristersson hingegen sieht die Schuld in der «verantwortungslosen Migrationspolitik» seiner sozialdemokratischen Vorgänger in der Regierung. Aneta und Elias Demir ärgert das politische Gezanke. Sie sagt: «Die Bandenkriminalität ist kein Problem von links oder rechts. Es ist ein Problem der ganzen Gesellschaft.»
Fast der ganzen Gesellschaft. Die politische Elite sei im netten und feinen Schweden gross geworden, sie lebe weit weg von den Gangs, lese von den Schiessereien nur in der Zeitung. «Wenn jemand erschossen wird, tauchen sie hier auf, machen ein paar Fotos. Es ist für sie ein normaler Arbeitstag. Es betrifft sie nicht», sagt Demir. Vielleicht müsse alles erst schlimmer werden, bevor es besser werden könne. «Vielleicht muss die Gewalt in ihre Quartiere schwappen, in ihre Familien, zu ihren Kindern und Freunden. Vielleicht wird sich dann etwas ändern.»
Die Demirs haben schon oft darüber nachgedacht, aus dem Stockholmer Vorort wegzuziehen. Doch so einfach ist es nicht. Da sind das Haus, die Arbeit und Mikaels Sohn, der gerade seinen Vater verloren hat. Skärholmen und Botkyrka sind ihr Zuhause. Trotz allem.







