Sie war die mächtigste Frau Europas. Dann war sie plötzlich weg. Zum Glück, sagen viele in ihrer Partei. Deren neue Führung korrigiert den alten Kurs: nach rechts. Doch ob die Ära der Angela Merkel wirklich vorbei ist, wird sich erst zeigen, wenn die CDU wieder das Land regiert.
Wenn Angela Dorothea Merkel, geborene Kasner, an diesem Mittwoch 70 Jahre alt wird, werden ihr nicht nur ihre Freunde gratulieren. Auch viele Kritiker und Kontrahenten werden Blumen, Karten und öffentliche Glückwünsche schicken, der heutige CDU-Chef Friedrich Merz vorneweg, wie man hört. Die Partei wird ihrer Altkanzlerin im September sogar noch einen Geburtstagsempfang ausrichten, in den ehrwürdigen Räumen der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften.
Auf den ersten Blick ist diese Eintracht erstaunlich. Wie wenig Merkel und Merz voneinander halten, ist bekannt. Sie selbst hat der CDU seit dem Ende ihrer Kanzlerschaft wieder und wieder die kalte Schulter gezeigt. Sie hat den Ehrenvorsitz ihrer Partei abgelehnt. Sie ist aus der parteinahen Konrad-Adenauer-Stiftung ausgetreten. Sie ist den Parteitagen ferngeblieben, trotz Einladung. Andere politische Termine hat sie unterdessen gerne wahrgenommen. Den scheidenden Grünen-Politiker und wortgewaltigsten deutschen Atomkraftgegner Jürgen Trittin etwa ehrte sie erst im Mai mit einer Laudatio.
In Trittins Partei waren sie begeistert; die frühere Kanzlerin hat bei den Grünen bis heute sehr viele Bewunderer. In Merkels eigener Partei sorgte die Laudatio hingegen für Irritationen. Einer der wenigen, die Verständnis zeigten, war der nordrhein-westfälische Ministerpräsident Hendrik Wüst. Merkel habe das Recht, nach so einer langen Zeit als Kanzlerin «andere Schwerpunkte» zu setzen, sagte er.
Die SPD als abschreckendes Beispiel
Wüst ist so etwas wie der inoffizielle Vorsitzende der verbliebenen «Merkelianer» in der CDU – ob aus Überzeugung oder aus Konkurrenz zu Merz, darüber gibt es unterschiedliche Ansichten. 2023 verlieh er der Altkanzlerin den Staatspreis seines Bundeslandes «für ihren unermüdlichen Einsatz zum Wohl des deutschen Volkes».
Ein anderer einflussreicher Christlichdemokrat, der unter der Altkanzlerin wegen seiner konservativen Überzeugungen wenig zu melden hatte, begründet den freundlichen Kurs der Parteiführung mit dem abschreckenden Beispiel der SPD. Als deren früherer Vorsitzender und Kanzler Gerhard Schröder im April seinen 80. Geburtstag feierte, liess sich kein einziger führender Genosse blicken. Manche gratulierten nicht einmal mehr schriftlich. So wolle man mit Merkel nicht umgehen, sagt der CDU-Politiker. Da gehe es, bei allen Differenzen, um Anstand.
Doch der konziliante Ton aus dem Team Merz kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass Deutschlands erfolgreichste und in den Meinungsumfragen derzeit wieder führende Partei immer weiter von ihrer Rekord-Vorsitzenden (2000 bis 2018) und -Kanzlerin (2005 bis 2021) abrückt. Das beste Beispiel dafür ist das neue Grundsatzprogramm. Der Text wirkt in vielen Punkten wie eine Korrektur der Ära Merkel.
Stichwort Islam. Für die Kanzlerin gehörte die Religion schon deshalb zu Deutschland, «weil wir hier Millionen von Muslimen haben». So formulierte sie es 2015, auf dem ersten Höhepunkt der deutschen Migrationskrise, und sie blieb bei dieser Linie. Wer es anders sah, wie etwa der frühere Bundesinnenminister Horst Seehofer von der CSU, wurde öffentlich von ihr gemassregelt. Im neuen Grundsatzprogramm der CDU heisst es nun: «Ein Islam, der unsere Werte nicht teilt und unsere freiheitliche Gesellschaft ablehnt, gehört nicht zu Deutschland.»
Die neue Machtlosigkeit der «Merkelianer»
Gewiss, es ist nur ein Satz. Aber die Tatsache, dass er jetzt im Programm steht, illustriert sowohl den Willen zur Kurskorrektur des neuen Vorsitzenden als auch die Machtlosigkeit der alten Parteikader. In der Ära Merkel hätte ein solcher Satz keine Chance gehabt. Und wenn die «Merkelianer» noch eine relevante Kraft wären, dann hätten sie ihn verhindert. Gleiches gilt für die Korrekturen bei den Themen Migration, Energie und Wehrpflicht oder beim Bekenntnis zu einer deutschen «Leitkultur».
«Wir wollen die Kontrolle über die Migration zurückerlangen», heisst es heute bei der CDU. Für Merkel ist dieser Satz eine Ohrfeige. Denn mit ihm macht sich die Partei die Kritik der Menschen zu eigen, die seit 2015 einen migrationspolitischen Kontrollverlust beklagen – und dafür jahrelang von vielen deutschen Politikern und Journalisten als Fremdenfeinde beschimpft wurden.
«Wir schaffen das», lautete Merkels Credo. Wir haben es bisher nicht geschafft, gibt ihre Partei heute zu.
Das nächste Beispiel ist die Kernenergie. Merkel hatte den von SPD und Grünen beschlossenen Atomausstieg als Kanzlerin eigentlich rückgängig gemacht. 2011, nach dem Seebeben, dem Tsunami und der nachfolgenden Kernschmelze im japanischen AKW Fukushima, folgte binnen weniger Tage ein radikaler Kurswechsel, den sie seither verteidigt.
Kernenergie: Ja, bitte!
Noch im November 2021 sagte Merkel – zu dieser Zeit war sie nur noch geschäftsführende Kanzlerin –, dass es eine «sehr ambitionierte und herausfordernde Aufgabe» sei, mit dem parallelen Ausstieg aus der Kohle- und der Kernenergie die Energiewende zu schaffen. Aber es werde sich für Deutschland auszahlen, «wenn wir es richtig machen».
Diesen Optimismus mag der von ihr geehrte Grüne Trittin teilen. Die CDU teilt ihn nicht mehr. Deutschland könne derzeit nicht auf Kernkraft verzichten, heisst es im neuen Grundsatzprogramm. Zur Energieversorgung von morgen gehörten auch Kernkraftwerke der sogenannten vierten und fünften Generation.
Schliesslich strebt die CDU auch bei der Bundeswehr eine Korrektur an. Nachdem Merkel die Wehrpflicht 2011 ausgesetzt und auch diese Entscheidung in den folgenden Jahren immer wieder verteidigt hat, will ihre Partei den Dienst an der Waffe nun als «verpflichtendes Gesellschaftsjahr» reanimieren. Falls das passieren sollte, wäre es ein Triumph der Konservativen, die Merkel nie verziehen haben, dass sie die «Schule der Nation» eingestampft hat.
Trotz alledem wäre es zu früh, von Siegern und Besiegten zu sprechen. Es ist eine Sache, ein Programm mit einem klaren bürgerlichen Profil aufzustellen; Friedrich Merz und sein Generalsekretär Carsten Linnemann haben dabei viel Geschick bewiesen. Sie haben alle relevanten Kräfte der Partei rechtzeitig eingebunden und mögliche Störmanöver der verbliebenen Merkel-Anhänger so im Keim erstickt. Auch die jüngsten Landtagswahlergebnisse und die Meinungsumfragen scheinen den neuen Kurs zu bestätigen.
Aber es ist eine andere Sache, ein solches Programm in einer Koalitionsregierung durchzusetzen. Falls Merz der gemeinsame Kanzlerkandidat von CDU und CSU werden und falls er die Bundestagswahl 2o25 gewinnen sollte, wird auch er mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit einen linken Partner brauchen: SPD oder Grüne oder, wer weiss, vielleicht sogar das Bündnis Sahra Wagenknecht, mit dem er eine Zusammenarbeit auf Bundesebene derzeit noch ausschliesst. Die Mehrheit der Bürger steht gemäss den Umfragen zwar klar rechts der Mitte, aber die FDP muss um ihr politisches Überleben bangen, und die «Brandmauer» der Unionsparteien verhindert bis auf weiteres ein Bündnis mit der AfD.
Der Preis des Regierens
Der Preis für eine Koalition mit welcher linken Partei auch immer dürfte das Schleifen einiger, vielleicht auch der meisten der gerade erst geschärften Konturen sein. Ein «Dienstjahr» für junge Deutsche könnte ein Kanzler Merz vermutlich noch durchsetzen. Eine Renaissance der Kernkraft, eine echte migrationspolitische Wende oder ein restriktiver Kurs gegenüber dem politischen Islam dürften schwierig werden.
Merz mag die CDU fürs Erste «entmerkelt» haben. Aber der Regierungsalltag könnte ihn schneller zu einer «Vermerkelung» seiner Politik zwingen, als ihm lieb ist. Und vermutlich würde er sich nicht dagegen wehren können. Denn wenn der CDU eine Sache immer schon wichtiger war als gute Vorsätze, dann das Regieren. Angela Merkel, die Pastorentochter im politischen Ruhestand, dürfte man sich in diesem Fall als glückliche Frau vorstellen.