Anna Wintour tritt nach 37 Jahren als Chefredaktorin der «Vogue» zurück. Doch wer glaubt, damit sei ihre Ägide vorbei, hat weder Mode noch Macht verstanden.
Es war eine Nachricht, die Modefans weltweit zu den Handys greifen liess. Ob man schon das Neuste gehört habe? Anna höre auf als Chefredaktorin der «Vogue»! Vom einfachen Ausruf «Nein, unmöglich» bis hin zu fliessenden Tränen dürfte während dieser Telefongespräche alles geschehen sein. Auf den ersten Blick wird es das Modethema des Jahres sein. Doch in der Mode ist nichts unvergänglicher als ein Rücktritt, der sich doch nur als halber Abgang entpuppt.
Anna Wintour bleibt, auch wenn sie geht. Sie war über Jahrzehnte hinweg die einflussreichste Frau der Modeindustrie. Sie gilt als ebenso mächtig wie gefürchtet, enigmatisch wie eiskalt, beständig wie wandelbar. Mit einem Kopfnicken entscheidet die mittlerweile 75-jährige Wintour noch heute über Wohl oder Wehe ganzer Designer-Karrieren.
Selbst wer sich nicht für Mode interessiert, ist mit Wintours Erscheinungsbild vertraut: akkurat geschnittener Bob, überdimensionierte Sonnenbrille, ein Haute-Couture-Kleid, meist in Begleitung der Reichen und Schönen, oder besser gesagt: der Reichsten und Schönsten.
Während Medien weltweit nun das Ende einer Ära beschwören, bleibt nüchtern betrachtet alles beim Alten. Die Macht der Anna Wintour, so viel scheint sicher, bleibt unangetastet.
Das begehrteste Stück Papier der Modebranche
Anna Wintour wurde 1949 in London geboren. Ihre ersten Erfahrungen machte sie in den siebziger Jahren beim altehrwürdigen Modemagazin «Harper’s Bazaar». Wenige Jahre später wechselte sie von der Londoner Redaktion in den amerikanischen Hauptsitz. Darauf folgte ihre Anstellung bei der amerikanischen «Vogue», wo sie 1988 zur Chefredaktorin ernannt wurde.
Jeans und ein Zehntausend-Dollar-Pullover; Wintours erstes Cover als Chefin löste einen Skandal aus. Noch nie zuvor war auf der Front der «Vogue» ein Model in Jeans abgelichtet worden. Die Druckerei soll so verwirrt darüber gewesen sein, dass sie das Foto für einen Fehler hielt. Am Telefon versicherte Wintour den Produzenten, dass alles stimme. Ihre Regentschaft begann.
In den Jahren darauf machte Anna Wintour aus dem «Vogue»-Cover das begehrteste Stück Papier der Modebranche – und darüber hinaus. Mit Kalkül öffnete sie die Titelseiten für jene, die dafür zuvor als undenkbar galten: von Nicole Kidman über Beyoncé bis hin zu Hillary Clinton. Wo früher lediglich Models posierten, zeigte sich nun auch Macht, Einfluss und Prominenz. Wintour porträtierte die Mode nicht nur als Ästhetik, sondern als gesellschaftliche Choreographie.
Als Anna Wintour bei der «Vogue» anfing, waren die Namen der Designer der grossen Modehäuser kaum jemandem ausserhalb der Szene bekannt. Heute weiss vom Taxifahrer bis zum Dekan jeder, wie Yves Saint Laurent ausgesprochen wird.
Ein Prada tragender Teufel
Der berühmteste Spitzname Anna Wintours orientiert sich eher am Militär als an Mode: «Nuclear Wintour» nennt man sie, wegen ihres kompromisslosen Führungsstils.
Als ihre ehemalige Assistentin Lauren Weisberger den Roman «Der Teufel trägt Prada» schrieb, wusste jeder in der Branche, wem die furchteinflössende Magazin-Chefin Miranda Priestly nachempfunden war. 2006 verfilmte Hollywood die Geschichte mit Anne Hathaway und Meryl Streep in den Hauptrollen. Wintour selbst kommentierte bloss lakonisch, es sei Aufgabe der anderen, darüber zu entscheiden, ob sie mit Priestly etwas gemeinsam habe.
Untermalt wird Wintours Ruf als Autokratin durch zahlreiche Mythen. Ihre Macht soll so weit reichen, dass selbst die namhaftesten Modedesigner erst mit ihrer Show beginnen, wenn Anna Wintour eingetroffen ist. Sie nimmt stets in der ersten Reihe Platz, fernab der Chefredaktoren anderer Modemagazine, dafür noch so gerne neben ihrem guten Freund Roger Federer – oder Namen vergleichbarer Gravitas.
Der Dokumentarfilm «The September Issue» (2009) gab seltenen Einblick in Anna Wintours Arbeit. Designer, die um ihre Anerkennung und somit um einen Platz in den begehrten Modestrecken buhlten, begegneten ihr mit einer Mischung aus Ehrgeiz und blanker Furcht. Unvergessen bleibt die Szene, in der Stefano Pilati, damals Kreativdirektor bei Yves Saint Laurent, mit schlotternden Knien in seinem Atelier steht, als eine eher unenthusiastische Wintour über seine neuste Kollektion blickt. Wenige Kollektionen später wurde Pilati ausgetauscht.
Die ewige Königin
Wintour transformierte die «Vogue» in eine digitale Instanz und machte sie zur treibenden Kraft globaler Mode-Events. Mit der «Met Gala» etablierte sie eine Art modisches Hochamt der Gegenwart.
Innerhalb des internationalen Verlagshauses Condé Nast stieg sie kontinuierlich auf, 2017 ernannte Königin Elizabeth II. sie für ihren Einfluss auf Mode und Journalismus zur «Dame».
Auch wenn Wintour nun offiziell nicht mehr Chefredaktorin ist, bleibt ihr Einfluss bestehen: Als globale Redaktionsleiterin der «Vogue» sowie Chief Content Officer bei Condé Nast überwacht sie weiterhin alle grossen Publikationen als oberste Kontrollinstanz.
Ihrem Nachfolger gesteht man nicht einmal den prestigeträchtigen Titel eines Chefredaktors zu. Gesucht wird lediglich eine «Leitung für redaktionelle Inhalte» – zuständig fürs Tagesgeschäft. Den wahren Chefposten aber gibt es nur einmal. Und den behält Anna Wintour.
