Sie hören mit 58, 60 oder 62 auf zu arbeiten, weil sie finden: genug geleistet. Die Haltung der Generation Z teilen immer mehr Ältere. Fachkräftemangel hin oder her.
Barbara S. sitzt vor dem Computer in ihrer Wohnung im Engadin und erzählt von ihrem Tag. Um halb neun ist sie ohne Wecker aufgestanden. Sie hat Kaffee getrunken, Meditationsmusik gehört und etwas Tai-Chi gemacht.
Blickt sie aus dem Fenster, sieht sie Tannen und Berge. Es hat geschneit in der Nacht. Am Nachmittag wird sie eine Schneewanderung machen. Barbara S. liess sich mit 58 frühpensionieren, heute ist sie 63. Acht Monate im Jahr verbringt sie in Celerina. Sonst lebt sie in Winterthur.
Die ausgebildete Sozialarbeiterin war zuletzt Geschäftsführerin einer Firma für Case-Management. Sie unterstützte und begleitete psychisch kranke Menschen, die noch arbeiten. Ihre Arbeit habe für sie Sinn ergeben müssen, sagt Barbara S. Sah sie deren Wert, konnte sie sich voll in einen Job hineingeben. Sie stiess Neues an, begeisterte andere dafür. Barbara S. ist in einer religiösen Familie aufgewachsen. Ihre Eltern hätten ihr vorgelebt, dass man arbeitet, um etwas zur Gemeinschaft beizutragen. «Ich war immer leistungswillig», sagt sie.
Sie arbeitete ihr ganzes Leben lang Vollzeit. Als Firmeninhaberin war abends um fünf selten Schluss, am Wochenende schrieb sie Berichte. Sie war gehetzt, machte kaum mit Freunden ab, quetschte die Stunde im Fitnessraum oder den Opernbesuch in ihre Agenda. Lange erfüllte sie es, dermassen eingespannt zu sein, gebraucht zu werden. Doch es erschöpfte sie auch.
«Ich empfand zunehmend alles verdichtet, fügte mich ein in den Takt der Welt», sagt sie. «Ich wollte wieder mehr Freiraum, um im eigenen Rhythmus zu leben.»
«Das Leben kann plötzlich kurz sein»
Barbara S. und ihr Partner, ein Gymnasiallehrer, mit dem sie seit dreissig Jahren zusammen war, redeten oft davon, sich früher pensionieren zu lassen. Sie legten Geld auf die Seite. Doch dann starb er überraschend. Das war vor sieben Jahren, er wurde sechzig.
Noch einmal erlebte sie, wie hilfreich Arbeit sein kann. Nach einer Woche ging sie wieder arbeiten. «Das gab mir Struktur, so blieb ich handlungsfähig.» Gleichzeitig bestärkte der Tod ihres Partners sie in ihrer Absicht, früher aufzuhören. Sie sagt: «Das Leben kann plötzlich sehr kurz sein.»
Weil sie von ihrem Partner geerbt hat und eine Witwenrente erhält, hat sie keine Geldsorgen. Da sind auch keine Kinder. Seit fünf Jahren macht sie nun, was sie will. Besucht Online-Volkshochschulkurse über Kunst und Geschichte, lädt Freunde zu sich in die Berge ein, wandert hoch über die Baumgrenze hinaus. Findet Ruhe und Stille.
Jeder Vierte lässt sich frühpensionieren
Barbara S. gehört zu einer wachsenden Zahl Menschen, die aus dem Berufsleben austreten, bevor sie das ordentliche Rentenalter erreichen. Freiwillig. Frühpensionierungen sind begehrt. In der Schweiz hören vier von zehn Angestellten vor 65 auf zu arbeiten. Das durchschnittliche Alter bei der Pensionierung liegt bei 64,5 Jahren.
In Deutschland ist es ähnlich. Die Deutschen arbeiten durchschnittlich sogar nur bis 64, obwohl der offizielle Rentenbeginn bei 66 Jahren liegt.
Am Wunsch vieler, früher aufzuhören, ändert auch die steigende Lebenserwartung nichts. Dabei wird die Phase länger, in der man nicht mehr arbeitet und von der Rente und vom ersparten Geld leben muss. Ebenso wenig wirksam sind die politischen Debatten darüber, wie die Wirtschaft die Älteren im Erwerbsleben halten kann. Das ist dringend nötig, denn die geburtenstarken Babyboomer-Jahrgänge gehen in Rente, von den Jungen kommen weniger nach. Es fehlt an Arbeitskräften.
Dass Fachkräfte fehlen, dafür macht die Gesellschaft in jüngster Zeit auch die Jungen verantwortlich. Die Generation Z lasse sie verzweifeln, sagen Arbeitgeber. Sie sei weniger leistungsbereit und habe Ansprüche, die sich die Älteren nie erlaubt hätten, als sie in die Arbeitswelt eingetreten seien.
Spricht man mit Frühpensionierten, fragt man sich: Stellt nicht gerade die ganze Gesellschaft den Wert der Arbeit infrage? Wirkt sich die Haltung der Jungen auf die Älteren aus, die langsam begreifen, dass Arbeit nicht das ganze Leben bedeutet?
«Aufhören, solange ich Energie habe»
Markus Rege unterscheidet sich von den Jungen insofern, als dass er «eine alte Arbeitsmoral» hat, wie er sagt. Rege arbeitete beim Zoo Zürich. Er verantwortete das Essen, sorgte für Besucher und sammelte Spenden. Bis er sich vor zwei Jahren mit 60 Jahren teilpensionieren liess. Er behielt ein 20-Prozent-Pensum, aber nicht mehr in leitender Position.
Bei Einstellungsgesprächen bekam Markus Rege von den jungen Bewerbern oft zu hören: «Ich möchte nur zwei oder drei Tage arbeiten.» Obwohl eine Vollzeitstelle ausgeschrieben war. Er sagte dann jeweils: «Leiste doch zuerst, bevor du forderst.» Dasselbe erwiderte er, wenn jemand schon nach kurzer Zeit ein Sabbatical nehmen wollte.
«Zuerst die Arbeit und dann das Vergnügen» – so habe er es gelernt. Weil seine Arbeit intensiv war und seine Verantwortung spürbarer wurde, entschied sich Rege für das Aufhören. Eben kommt er aus dem Lunch-Kino. Das Publikum im Film «The Pursuit of Happiness» über den Dalai Lama war um einiges älter als er. Welcher arbeitende Mensch hat noch Zeit, über Mittag ins Kino zu gehen?
Dabei befolgte Markus Rege, was Finanzberater jeder Person ab 45 nahelegen: Er befasste sich schon mit fünfzig mit seiner Frühpensionierung. Obwohl er immer gern gearbeitet hat, gute Jobs annahm. Aber er wollte nicht erst aufhören, wenn er «auf dem letzten Zacken lief», wie er sagt: ausgelaugt und abgelöscht war, um sich mit 65 erst einmal ein Jahr lang erholen zu müssen. Oder um frisch in Pension einen Herzinfarkt zu erleiden. Er kennt solche Fälle.
Weil er weit vorausschaute, ging der Plan auf. Markus Rege, ein Marathonläufer, drahtig und voller Energie, hatte nie längere Arbeitsunterbrüche. Er verdiente gut, zahlte lückenlos in die Pensionskasse ein, berechnete mit seinem Treuhänder, wie viel Geld er braucht, um sein bisheriges Leben weiterzuführen. Er habe sich gesagt: «Ich mache die längere Pause dann am Schluss.»
In dieser «Pause» fährt er mit einem Monats-GA mit dem Zug durch die Schweiz. Besucht das Schloss Chillon am Genfersee, das Charlie-Chaplin-Museum in Vevey. Geleitet von der Frage: Was für ein Ort fehlt mir noch, wo war ich noch nie?
Und er engagiert sich gemeinnützig. Begleitet Menschen mit Beeinträchtigungen im öffentlichen Verkehr, arbeitet unentgeltlich an Sportanlässen wie neulich für die Velo-WM in Zürich. Er hilft Migranten mit Hochschulabschluss bei der Stellensuche. Sein früheres berufliches Netzwerk nützt ihm dabei. «So gebe ich etwas zurück.»
Sein Lohn kommt nun in anderer Form: Er wird nicht mehr dafür bezahlt, dass er enttäuschte Zoo-Besucher tröstet, weil diese den Tiger nicht gesehen haben. Sondern er wird entlöhnt mit der Dankbarkeit und Zufriedenheit derer, für die er Gutes tut.
Beamte und Banker gehen früher
Markus Rege hätte sich bereits mit 58 pensionieren lassen können, denn die Pensionskasse der Zoo-Mitarbeiter ist bei der Stadt Zürich, wo das möglich ist. Das dürfte mit ein Grund sein, weshalb die Frühpensionierung bei Angestellten der öffentlichen Verwaltung besonders beliebt ist.
Nur Banker halten noch weniger lange durch. 60 Prozent hören vor 65 zu arbeiten auf. Sie haben meist auch die Mittel dazu. Einer von ihnen sagt es so: «Wenn du als Banker bis 65 arbeitest, bist du ein Versager.»
Akademiker arbeiten häufiger bis 65 als Leute mit einer Berufslehre. Wer sich stark mit seinem Beruf identifiziert, ihn als abwechslungsreich erlebt und Wertschätzung erhält, ist eher bereit, sogar noch zwei, drei Jahre anzuhängen. Doch gemäss Studien wollen weniger als die Hälfte der Erwerbstätigen in der Schweiz über das Pensionsalter hinaus arbeiten. Leute mit Hochschulabschluss eingeschlossen.
Firmen und Chefs sind gefordert, ihren Angestellten etwas zu bieten, was sie zum Bleiben bewegt. Mehr Lohn, flexiblere Arbeitszeiten, Teilzeitarbeit, bessere Angebote zu einem schrittweisen Rückzug aus dem Berufsleben. Als weiterer «Fehlanreiz», der zu Frühpensionierungen verlockt, gilt die Steuerlast bei gutem Verdienst. Viele, die vorher aussteigen, könnte man aber auch dann nicht halten. Egal, was sich ändert.
«Sonst sitzt man nur zu zweit am Tisch»
Ronit R. und Christoph L. jedenfalls muss man mit solchen Ideen nicht kommen. Mit 60 und 61 liess sich das Paar aus Schaffhausen gleichzeitig frühpensionieren. Das war vor drei Jahren. Fachkräftemangel? Da wären zuerst Lösungsvorschläge der Politik gefragt, sagt Christoph L., damit sich Beruf und Familie besser vereinbaren liessen.
Wenn es heisst: Es braucht euch Ältere auf dem Arbeitsmarkt, so antworten Ronit R. und Christoph L.: Warum merkt man erst jetzt, dass die Babyboomer auch einmal pensioniert werden? «Nicht mit uns.»
Ronit R. hätte bis 90 weiterarbeiten können, wie es manche ihrer Berufskollegen tun: Sie arbeitete als Psychotherapeutin in eigener Praxis, war daneben in einer psychiatrischen Klinik tätig. Christoph L. war Elektrotechniker.
Sie realisierten damals, dass es trügerisch war, das Leben auf später zu verschieben. Sie sahen, wie ihre Eltern gebrechlich wurden, standen am Grab von Leuten in ihrem Alter.
Weil sie den Schritt zusammen machten, musste sich keiner an die plötzliche Anwesenheit des andern daheim gewöhnen. Manche Paare merken dann, wie fremd sie sich sind. Auch Einsamkeit kann Frühpensionären drohen, da sie nicht mehr in ein Arbeitsumfeld eingebunden sind. Vor allem dann, wenn alle anderen noch arbeiten und man vor lauter Arbeit sein Leben lang verpasst hat, Freundschaften ausserhalb des Jobs zu pflegen. Und plötzlich weiss man nicht mehr, was man mit sich selber anfangen soll.
Sie hätten beide ihren eigenen Rhythmus beibehalten, sagt Christoph L. Getrennt mit Kollegen abmachen, auch wenn das manchmal Überwindung kostet. «Sonst sitzt man nur zu zweit am Tisch.»
Politiker wie der FDP-Ständerat Damian Müller beklagen das heutige Arbeitsethos als Ausdruck einer fehlenden gesellschaftlichen Solidarität. Was sagen sie dazu? Sie haben nicht das Gefühl, dass sie der Gesellschaft etwas zurückgeben müssen. «Wir haben unseren Beitrag geleistet», sagen beide: «Jetzt sind wir an der Reihe.» Deshalb lehnten sie auch ab, als Christoph L.s Sohn sie anfragte, ob sie an fixen Tagen die Enkelkinder hüten würden.
«Wir haben jetzt die beste Zeit»
Am liebsten reisen Ronit R. und Christoph L. Manchmal sind sie mit dem Töff unterwegs, er fährt, sie fährt auf dem Rücksitz mit. Zehn Wochen Griechenland, Türkei, Armenien. Oder sie erkunden ein Land mit dem Wohnmobil. Im nächsten Frühling fahren sie sechs Monate durch die USA und Kanada. «Wir haben jetzt die beste Zeit», sagt Ronit R.
Natürlich kosten die Reisen Geld. Deshalb wussten sie nicht, ob sie sich die Frühpensionierung leisten können. Sie listeten Ein- und Ausgaben auf, ihre Bank begann zu rechnen. Beide waren es gewohnt, Ende des Monats immer etwas mehr auf dem Konto zu haben. Sie teilten dieses Sicherheitsdenken. Dann liessen sie sich davon überzeugen, dass das Geld reicht: Nun müssen sie bis zur ordentlichen Pensionierung von ihren Ersparnissen leben. Nach drei Jahren geht das schon besser.
Sie wollen nicht mehr so viel wie möglich sparen, um es an die nächste Generation zu vererben. Ronit R.s Vater hätte am liebsten auf das Hörgerät verzichtet, um seinen Kindern mehr Geld zu vererben. «Ich musste mit ihm kämpfen, damit er sich etwas gönnt.» Christoph L., dem eine gute Ausbildung seiner beiden Söhne wichtig war, will ihnen so viel hinterlassen, wie er von seinem Vater geerbt hat. Damit ist aber gut.
Die Generation Z will vor 60 aufhören
Die Frühpensionierung muss man sich leisten können. Dennoch streben auch Leute mit weniger Geld den frühzeitigen Rückzug an. Anhänger der Bewegung «Financial Independence, Retire Early» (Fire) beginnen schon mit 25 damit, ein minimalistisches Leben zu führen.
Finanziell unabhängig sein und früh in Rente gehen bedeutet: Man verzichtet auf alles, was man nicht dringend benötigt. Velo statt Auto, selber kochen statt Restaurant, keine neuen Kleider. Das eingesparte Geld investiert man in Aktien und Immobilien. Dank dem Vermögen kann man sich angeblich schon mit vierzig zurückziehen.
Laut einer neuen Umfrage der Bank Goldman Sachs will die Generation Z noch zeitiger in Rente gehen als frühere Generationen. Von den Befragten, also den zwischen 1995 und 2010 Geborenen, planen 44 Prozent, sich vor 60 pensionieren zu lassen.
Hört man den Frühpensionierten zu, so haben diese der Generation Z vielleicht sogar vorgespurt mit der Haltung, dass Arbeit nicht das ganze Leben ist. Man zählte sich zu den Leistungsträgern, der Beruf war Teil der Identität, man bemass so den Selbstwert. Gerade darum sehnen sich die frühen Senioren nach einer Befreiung. Das wirkt sich auf die Jungen aus, die sich von Anfang an um ihre Work-Life-Balance sorgen.
Die 90-jährige Mutter macht es froh
Doris Bucher hat das Wort «Life-Work-Balance» nicht einmal gekannt, als sie mit 16 ins Berufsleben einstieg. Bucher hat 46 Jahre im Detailhandel gearbeitet, zuletzt als Betriebsleiterin. Die 62-Jährige aus Dottikon im Kanton Aargau hatte diesen Herbst ihren letzten Arbeitstag.
Sie sass an der Kasse eines Lebensmittelladens, später bildete sie Lehrlinge aus und machte Einsatzpläne. Bucher ist so aufgewachsen, dass man dankbar sein muss, wenn man eine Arbeit hat. In der Stube ihres Elternhauses hängt der Spruch: «Zwei Lebensstützen brechen nie, Gebet und Arbeit heissen sie.» Damit erklärt sie sich ihr Pflichtbewusstsein. Sie habe immer gern gearbeitet, sagt die blonde, braungebrannte Frau. Sie war gerade auf Gran Canaria in den Ferien.
Auch Doris Bucher rettete sich nicht aus einem verhassten Job in die Frühpensionierung. Der digitale Umbruch und der körperliche Stress hielten sie jedoch auch nicht davon ab. Ihr Mann, früherer Geschäftsführer eines Lebensmittelgeschäfts und schon länger pensioniert, unterstützte sie dabei.
Nun steht sie nicht mehr jeden Morgen um halb sechs auf, fährt dafür häufiger mit ihrem E-Bike, das sie zum Abschied von ihren Arbeitskollegen erhielt, zu ihrer 90-jährigen Mutter ins Nachbardorf. Diese, eine Bäuerin, hatte Bedenken, ihre Tochter könne nach der Frühpensionierung «in ein Loch fallen». Da Doris Bucher jetzt mehr Zeit mit ihr verbringt, Fenster putzt oder mit ihr Weihnachtsguetzli backt, sagt heute selbst die Mutter: «Ich geniesse deinen Ruhestand.»