Arbeitssüchtige verbergen ihre Probleme vor ihrer Umwelt und vor sich selbst. Ohne Hilfe gelingt den wenigsten der Ausstieg aus der Selbstausbeutung
Der Beginn des neuen Jahres gilt für viele Menschen als idealer Zeitpunkt, um sich von ihren schlechten Gewohnheiten zu befreien. Typischerweise wollen sie mit dem Rauchen aufhören, den Alkoholkonsum senken oder weniger Zeit in den sozialen Netzwerken verbringen. Doch über eine der am weitesten verbreiteten Süchte wird kaum je gesprochen: die Arbeitssucht. Jeder zehnte Erwerbstätige leidet laut Studien daran. Was macht es aus, dass eine gesellschaftlich geschätzte Tugend ins Ungesunde kippt?
Seit etwa fünfzig Jahren erforschen Wissenschafter dieses Phänomen, oft mit der Dutch Work Addiction Scale. Sie unterscheidet zwischen exzessivem Arbeiten und zwanghaftem Arbeiten: Wenn jemand viel und unter hohem Zeitdruck arbeitet, spricht man von exzessivem Arbeiten; bei innerem Getriebensein und der Unfähigkeit, sich am Feierabend zu entspannen, von zwanghaftem Arbeiten.
Arbeitsleistung wird schlechter
Arbeitssucht liegt vor, wenn beide Verhaltensweisen auftreten. Ehemals Betroffene berichten: «Man kann an fast nichts anderes mehr denken als an die Arbeit. Man ist in einer Endlosschleife, in der der Feierabend irgendwie leer wirkt und nur dazu dient, möglichst zeitig schlafen zu gehen, damit der nächste Arbeitstag beginnt. Gleichzeitig habe ich wegen der Arbeitssucht mein Sozialleben und die Hobbys systematisch vernachlässigt.»
Fast könnte man meinen, Unternehmen freuten sich über solche engagierten Mitarbeiter: pflichtbewusst, verantwortungsvoll und mit einer starken Identifikation mit dem eigenen Job. Schliesslich werden gerade diese Menschen oft mit zusätzlichen Projekten belohnt und kommen beruflich voran. Doch die Rechnung geht nicht auf, denn Workaholics werden über kurz oder lang ineffizient und bezahlen früher oder später mit ihrer Gesundheit.
Holger Heide, Experte für Arbeitssucht, weist darauf hin, dass sich Betroffene von ihren Bedürfnissen und Gefühlen abspalten. Sie überschreiten ihre Grenzen und können sich buchstäblich zu Tode arbeiten. So berichten Betroffene von massiven körperlichen Einbussen, Schlafstörungen, depressiver Stimmung bis hin zum Burnout.
Digitalisierung erhöht die Risiken für Anfällige
Solange es geht, vertuschen sie die Sucht und betrügen sich oft jahrelang selbst: Sie behaupten, gerne so viel zu arbeiten, und erreichen so, dass andere Menschen sie in Ruhe lassen. Oder sie reden sich ein, dass sie am Wochenende nur noch ein paar Sachen erledigen müssten, um am Montag entspannter starten zu können. Oder dass es nächste Woche oder im nächsten Monat besser werde. Dieses Verhalten ähnelt dem von Alkoholikern. Nicht zufällig spricht man auch von «Workaholismus». Aber anders als beim Alkoholismus ist völlige Abstinenz keine Lösung.
Die Veränderungen in der Arbeitswelt begünstigen die Arbeitssucht: Wo Arbeitszeiterfassung abgeschafft, Arbeitszeiten flexibilisiert und Verantwortlichkeiten breiter verteilt werden, steigen die Anforderungen an Abgrenzung. Der Einzelne muss nicht nur seine Projekte durchführen, sondern auch Pausen und Feierabendzeiten im Blick haben. Das ist die Kehrseite von mehr Autonomie.
Ein besonderes Risiko birgt die Digitalisierung, wenn der Job durch das Smartphone häufig nur eine Armlänge entfernt ist. Eine Betroffene schreibt: «Die digitale Erreichbarkeit ist für Arbeitssüchtige (oder -anfällige) wie die Bierflasche für den Alkoholiker. Wenn die Flasche auf dem Tisch steht, ist es fast unmöglich, nicht daran zu denken oder zu widerstehen.»
Grundsätzlich kann jeder, der einen Job hat, arbeitssüchtig werden. Begünstigende Faktoren seien ein niedriges Selbstwertgefühl und Perfektionismus, sagt die Wirtschaftspsychologin Christine Voigt. Auch das elterliche Vorbild spielt hinein: Wenn der Vater oder die Mutter arbeitssüchtig sind, neigen auch ihre Kinder dazu, so die Arbeitsforscherin Beatrice van Berk. Vererbte Traumata können ebenfalls dazu führen, dass Menschen sich getrieben fühlen, ständig leisten zu müssen, so Jo Aschenbrenner, Expertin für berufliche Neuorientierung.
Der Arbeit klare Grenzen setzen
Was können Menschen tun, die ungesundes Arbeitsverhalten bei sich bemerken? Der wichtigste Schritt ist, es sich einzugestehen und zu erkennen, dass man es wahrscheinlich nicht allein in den Griff bekommt. Es überrascht nicht, dass es in Deutschland Gruppen für anonyme Arbeitssüchtige gibt. Auch ein Coach oder eine Therapeutin kann helfen, die Arbeit wieder in die Schranken zu weisen und festgefahrene Überzeugungen zu ändern. Arbeitssüchtige müssen oft lernen, dass sie die Arbeit niederlegen dürfen, bevor sie total erschöpft sind. Und auch, sich durch feste Feierabendzeiten Raum für andere Aktivitäten zu schaffen.
«Lebe jeden Tag so, als wäre es dein letzter», besagt ein Sprichwort. Wir müssen akzeptieren, dass die Arbeit nie ganz fertig ist. Aber wir können dafür sorgen, dass uns die Arbeit nicht (mehr) fertigmacht, sondern uns Zufriedenheit gibt und uns erfüllt. Der Jahresbeginn ist der ideale Zeitpunkt dafür.
Nicole Kopp ist Arbeits- und Organisationspsychologin und Mitgründerin der Beratungsfirma GoBeyond.
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