Staatsversagen und Korruption mobilisieren die Bürger in Serbien und Rumänien. Proteste waren auf dem Balkan meist erfolglos. Ist die Region demokratieunfähig?
Die Bilder des Protests auf dem Balkan könnten nicht unterschiedlicher sein: In Serbien marschiert die Jugend durch das Land, gutgelaunt und gewaltfrei. Nur wenige hundert Kilometer östlich dagegen, in Rumänien, scharen sich frustrierte Bürger um rechtsextreme Parteien. Ihre Anführer verehren die Faschisten der Zwischenkriegszeit und setzen auf die Abkoppelung vom Westen.
Wenn man genauer hinschaut, dann haben beide Erscheinungen ähnliche Wurzeln: Es ist die tiefe Entfremdung der Bürger von der staatstragenden politischen Klasse, die nicht liefert, wofür sie gewählt wurde, und von Institutionen, die käuflich sind. Auf dem Balkan braut sich etwas zusammen.
Der Aufstieg der Rechtsextremen in Rumänien geschah nicht über Nacht. Bereits 2012 und 2017 rollten zwei Demonstrationswellen durch das Land, getrieben von Skandalen, die den Regierungsparteien angelastet wurden: mutwillige Umweltzerstörung durch Bergbau, das Parlament, das sich von Korruption amnestieren wollte, und Behördenversagen bei einer Brandkatastrophe. 2015 starben in Bukarest über sechzig junge Menschen in einem Nachtklub ohne Notausgang.
Die Ursache für die Empörung liegt aber tiefer. Es ist die Wut auf Korruption und Vetternwirtschaft und damit verbunden die Bereicherung der wenigen und der Schlendrian der vielen. Die Politiker schauen weg und schaffen rechtsfreie Räume für die Wirtschaft. Für das Wegschauen lassen sie sich bezahlen. Die Justiz bleibt passiv und verdient mit.
Die rechtsextreme «Allianz für die Vereinigung der Rumänen», die mit ihrem versteht sich als Antwort auf diese Missstände: Sie trat an, um im Namen von «Familie, Nation, Glauben und Freiheit» mit diesem Establishment aufzuräumen. Ihr Vorsitzender George Simion kandidiert für die Präsidentschaft, nachdem der ursprüngliche Kandidat Calin Georgescu disqualifiziert worden ist.
Bereits bei den ersten Wahlen 2020 erhielt die AUR zehn Prozent der Stimmen. Mittlerweile hat sie den Wähleranteil verdoppelt und ist die zweitstärkste Partei im Parlament. In Umfragen spricht sich sogar jeder Dritte für sie aus. Die Partei kanalisiert erfolgreich die Wut vor allem im ländlichen Raum, der geprägt ist von Überalterung, Aussichtslosigkeit und einer massenhaften Abwanderung ins Ausland.
Die Daheimgebliebenen wiederum sind empört, dass sich so viele junge Rumäninnen und Rumänen, sowohl gut Ausgebildete als auch Hilfskräfte, im Ausland verdingen müssen. Das Rezept der AUR gegen diesen «Ausverkauf» heisst: Protektionismus, Rückbau der EU und Aufbau einer autarken Wirtschaft.
Dreht sich der Balkan ewig im Kreis?
In Serbien sind die Missstände ähnlich, die politische Reaktion aber ganz anders: «Eure Korruption tötet» ist eine der Losungen der grössten Protestbewegung seit dem Sturz von Milosevic vor 25 Jahren. Am Bahnhof von Novi Sad waren bei dem Einsturz eines Daches fünfzehn Menschen ums Leben gekommen. Der Versuch, die Verantwortung dafür zu vertuschen, Dokumente zurückzuhalten und Fehler schönzureden, verwandelte die Trauer schnell in Wut. Angeführt von Studentinnen und Studenten wuchs in kürzester Zeit eine Protestbewegung heran. Mitte März versammelte sie 300 000 Bürgerinnen und Bürger zur Grosskundgebung in Belgrad.
Was sie wollen, ist wenig und viel zugleich: Dass die Behörden ihre Arbeit machen und das Unglück aufklären, ist ja eigentlich das mindeste. Das gilt allerdings nicht in einem Staat, dessen Regierungspartei alle Institutionen kontrolliert und die Gewaltenteilung faktisch aufgehoben hat. In diesem System, das auf der fast uneingeschränkten Macht von Präsident Aleksandar Vucic ruht, ist die Forderung nach Recht und Ordnung ein subversiver Akt.
Der Protest, der an den Universitäten begonnen hat, wird vor allem von der urbanen Mittelklasse mitgetragen, er hat aber auch Leute auf dem Land mobilisiert. Die Studenten halten konsequent Distanz zu den etablierten Oppositionsparteien. Sie sind fast ebenso verhasst wie die Partei an der Macht. Ihre Politiker, so heisst es, seien nur deshalb nicht korrupt, weil sie keine Gelegenheit dazu hätten. Und tatsächlich war es ihre Korruption, die vor über einem Jahrzehnt Vucic und seine «Fortschrittspartei» an die Macht brachte.
Die Protestbewegung hat keine formale Struktur. Es gibt keine Anführer, keine Komitees, keine öffentlich bekannten Namen und Gesichter. Die Bewegung ist dezentral organisiert in verschiedenen Plenen, die über Verbindungsleute untereinander vernetzt sind. In diesen Vollversammlungen wird per Mehrheit entschieden. Der serbisch-amerikanische Ökonom Branko Milanovic bezeichnet das als «Anti-Politik».
Sie sei Fluch und Segen zugleich, sagt der in New York lehrende Wissenschafter. Ein Segen, weil die Bewegung so zusammenbleibe, vereint in der tiefen Ablehnung gegenüber den Usurpatoren der Macht. Das Festhalten an dieser Struktur sei aber auch ein Fluch, weil Vucic damit (auf demokratischem Weg) nicht herausgefordert werden könne. Dafür müsste sie sich in eine Partei verwandeln: mit Name, Programm und Hierarchie. Doch das sei nicht möglich, denn dann zerfalle die heterogene Bewegung aus Linken und Liberalen, Proeuropäern und Nationalisten. Daraus, so Milanovic, lasse sich keine Partei formen.
Ist der Balkan also dazu verdammt, dass seine fortschrittlichen Bürgerbewegungen immer wieder scheitern? Milanovic neigt zu der Ansicht. Serbien habe wie Russland oder Argentinien eine «zirkuläre Geschichte», in der das gleiche Stück mit wechselnden Darstellern ewig wiederholt werde. Ob 1825, 1925 oder 2025 – Serbien werde immer von einem autoritären Führer regiert, der das Volk zwar quasidemokratisch konsultiere. Die wahre Macht aber speise sich aus seiner Klientel, die ihre Bereicherung mit politischer Loyalität vergelte.
Es liegt an den Gesellschaften
Dieser Fatalismus ist fragwürdig, denn er geht davon aus, dass eine Bürgergesellschaft auf dem Balkan unmöglich ist. Er übersieht, dass Serbien im Jahr 2000 nach den bleiernen Milosevic-Jahren schon einmal einen Aufbruch gewagt hat, der unter dem charismatischen Zoran Djindjic hätte gelingen können. Der Neuanfang wurde nicht von einem dunklen Schicksal beendet, sondern von dem Heckenschützen, der Djindjic auflauerte.
Wir wissen auch nicht, ob aus dem jetzigen Protest eine politische Kraft wächst, die das System Vucic auf demokratischem Weg ersetzen kann. Die Geschichte ist ein offener Prozess, auch auf dem Balkan.
Und schliesslich haben die monatelangen Proteste eine ganze Generation junger Menschen mobilisiert. Sie haben gelernt, sich zu organisieren, politische Ziele zu definieren und sie zu kommunizieren. Sie sind mündige Bürger geworden. Serbien darf auf seine Jugend hoffen.
Was kann Europa tun? Nicht viel. Es gibt zunächst ein paar Dinge, die es nicht tun sollte. In Rumänien sollte es den fragwürdigen Ausschluss des rechtsextremen Calin Georgescu von der Präsidentenwahl nicht unterstützen. Das undurchsichtige Urteil hat das Misstrauen in Justiz und Politik noch verstärkt – und damit den Zulauf zu den Extremisten. Auch Neofaschisten sollten an der Urne aussortiert werden – bis feststeht, dass sie Recht gebrochen haben. Das verlangen übrigens auch die fortschrittlichen Kräfte, die das rumänische Machtkartell herausfordern.
Was Serbien betrifft, sollte sich die EU von der Vorstellung verabschieden, Vucic sei ein Garant für die Stabilität der Region. Mag sein, dass er das einmal war. Jetzt aber, wo er in ernsthafte Bedrängnis gerät, könnte er zu einem Risiko werden. Er scheute sich nicht, Provokateure in die Belgrader Grosskundgebung einzuschleusen, die für Gewalt und Chaos hätten sorgen sollen. Das ist nur dank der Besonnenheit der Bürger nicht geschehen.
Mit Bosnien-Herzegowina im Westen und Kosovo im Süden grenzt Serbien an zwei Krisenherde. Auf beide hat Vucic direkten Einfluss über seine Verbündeten in der Republika Srpska und in Nordkosovo. Hier müssen Europa und die USA (soweit es sie noch interessiert) wachsam sein. Eine offene Krise in der Nachbarschaft könnte Vucic den Vorwand geben, kurzen Prozess mit der Bürgerbewegung zu machen.
Die Verantwortung dafür, dass Rumänien und Serbien demokratischer werden, liegt aber bei den Bürgern dieser Länder selbst. Die letzten Jahre haben gezeigt, dass der Einfluss der EU in der Region stetig abnimmt. Damit sind die politischen Risiken gewachsen, gleichzeitig wachsen aber auch die Selbstverantwortung und der Bürgersinn. Die Proteste auf dem Balkan zeigen letztlich: Rumänen und Serben emanzipieren sich.