Der österreichische Schriftsteller Clemens J. Setz hat ein Faible für alles Schräge. Es verwundert nicht, dass er auch eine Schwäche fürs poetische Twittern hat.
Elon Musks Verhaltensauffälligkeiten haben es geschafft. Das X im Namen seiner Plattform steht heute für Exodus. Die Nutzer wandern ab, weil sie sich an bessere Zeiten zu erinnern glauben. An Zeiten, in denen das Ding noch Twitter hiess und man dort offenbar in paradiesischer Unschuld vor sich hin postete.
Dass der Schriftsteller und Büchnerpreisträger Clemens J. Setz ein Apologet und eifriger Nutzer sozialer Netzwerke ist, kann mittlerweile als bekannt gelten. Wenn er unter dem Titel «Das All im eigenen Fell» jetzt «eine kurze Geschichte der Twitterpoesie» veröffentlicht, gerät man also nicht ganz unvorbereitet in Verklärungszusammenhänge.
Setz schwärmt von @susibumms, @carlasparla, @donculotte und einem Twitter-King namens Kurt Prödel. Ein paar Exzentriker ferner Jahrhunderte gehören noch zum Klub von Literaturbetriebsverweigerern, die es ihm angetan haben. Ist das nerdig-nervend oder doch auf witzige Weise erhellend? Man weiss es nicht genau, und so kann man mit diesem Buch selbst die Unterschiede zwischen blosser Albernheit und literarischem Tiefsinn erforschen.
Als witzigstes Gedicht, dass er kenne, präsentiert Clemens J. Setz einen Vierzeiler von @carlasparla: «november / november / deine eltern sind / geschwister.» Wer den Blitz solcher Komik nicht sieht, der steht unerleuchtet da. Das ändert sich auch nicht, wenn Setz von der «schräg verzahnten Perfektion und der anarchischen Zartheit» dieser Zeilen spricht. Anderes von der gleichen Twitter-Autorin wird als «Aphoristik» geadelt. Zum Beispiel dieses: «Ein Jahr im Internet sind sieben Menschenjahre.»
Eine Spalte im Kopf
Nicht alles bleibt unter der Last der Setzschen Euphorie stabil. Kaum gelesen, ist es schon vergessen, weil es ohnehin so klingt, als hätte man es schon irgendwo gelesen. Der Originalitätsdrang der Twitterpoesie frisst das Originäre oft wieder auf. Wenn der österreichische Schriftsteller beklagt, dass mit der Stilllegung von Accounts ganze Werke für immer aus dem kulturellen Gedächtnis verschwinden, glaubt man ihm seinen Kummer.
Macht aber die Tatsache, dass die Texte auf Twitter gepostet wurden, aus ihnen etwas ganz anderes? Das ist ein bisschen das Problem von Setz’ kurzer Geschichte der Twitterpoesie: Gedruckt wirkt «unser Rimbaud» alias @LunaticAbsturz, der im Buch als «Ahnherr dieser neuen Art deutschsprachiger Dichtung» geführt wird, vielleicht nicht ganz so knisternd: «Beste wie Mund bei Menschen einfach so horizontale Spalte in Kopf.»
Vielleicht geht es dem Fan dieser Poesie gar nicht so sehr um die Sätze selbst, sondern um den Augenblick, in dem sie zünden. Das Psychologische der Twitter-Dichtung beleuchtet Clemens J. Setz in seinem Buch ebenfalls. Wenn es um die «Wahrung der Übertragungsqualität unserer Gefühle» geht, dann ist für ihn der Reim das Mittel der Wahl. «O Deutschland deine Kuckucksuhren / enthalten noch viel Grauen / Die Geister hinterliessen Spuren / in unserem Weltvertrauen», dichtet Setz. Ein Abschnitt seines Essays ist Beispielen aus eigener Produktion gewidmet. Das klingt dann nach Schwitters, Ringelnatz oder Rilke: «Im Sommer bleiben die Menschen oft stehen / und rühren sich kaum von der Stelle / und werden starr, wie die sich im Drehen / straffenden Ketten der Karusselle.»
Vorläufer im 19. Jahrhundert
Gemessen an den Milliarden Tweets, die täglich abgesetzt werden, ist das Reservat der Dichtung auf Twitter oder jetzt eben X ziemlich klein. Es gibt Stars und Szenen und eine sich als heroisch begreifende Grundhaltung, ein Rebellentum wider das Banale der sozialen Netzwerke. Poesie spriesst auf X wie das Gras zwischen Pflastersteinen.
Weil Clemens J. Setz dieses Tun auch gleich in einen grösseren Zusammenhang stellen will, sucht er nach Vorläufern und wird bei Aussenseitern des Literaturbetriebs fündig. Bei Thomas Lovell Beddoes zum Beispiel, der im 19. Jahrhundert als Sohn eines exzentrischen Arztes eine schwere Kindheit erlebte und von seiner englischen Heimat erst nach Göttingen übersiedelte, um schliesslich in Basel Suizid zu begehen. Beddoes’ Theaterstücke seien voll gewesen mit unübersichtlich durcheinanderplaudernden Dialogen. Eine Art Twitter avant la lettre. Fragmentarisch, enigmatisch, nicht für die Ewigkeit geschaffen.
Jules Renard, der im 19. Jahrhundert seine Tagebücher führte, wird von Setz genauso zum Vorfahren der digitalen Kurztextpoesie erklärt wie der Schotte. Renards aphoristische Notizen sind leider um eine Spur besser als die Twitter-Dichtung, auch wenn sie klingen wie manche Werke der Generationen Y und Z. «Meine Seele ist ein alter Nachttopf, in dem ein Auge schläft», schreibt Renard, oder: «Im Wald sondern sich die Tannen ab wie Priester.»
Ian Hamilton Finlay hat als Vertreter der konkreten Poesie seine Sätze nicht ins Digitale gemeisselt, sondern in riesige Pflastersteine oder Stelen. Eines seiner berühmtesten Werke ist der «Hain der Stille», auf dem ein Baum das steinerne Schild mit der Gravur «Schweigen» trägt. Zu einem Hain der Stille wird X wohl nicht mehr werden. Etwas Poesie kann dort allerdings nicht schaden.
Clemens J. Setz: Das All im eigenen Fell. Eine kurze Geschichte der Twitterpoesie. Suhrkamp-Verlag, Berlin 2024. 192 S., Fr. 32.90.