Adolf Ogi fordert Albert Rösti auf, sich stärker für den Erhalt von Postfilialen einsetzen. Die Schweizer sind pragmatischer: Sie verlassen die Schalterhalle. Eine Verabschiedung.
1078 – 904 – 805 – 773: In gnadenlosem Stakkato reduziert die Post jährlich die Zahl ihrer Filialen. Am Mittwoch gab sie bekannt, dass sie bis 2028 weitere 170 Filialen schliessen werde – oder wie es leicht euphemistisch heisst: Sie entwickle ihr Filialnetz weiter, «physisch und digital». Noch 600 in Eigenregie geführte Filialen sollen bleiben.
Für die meisten Kundinnen und Kunden ist das kein Problem: Die Postagenturen in Bäckereien oder Denner-Geschäften sind praktischer als Poststellen mit ihren schwer durchschaubaren Öffnungszeiten. Und Briefe frankieren, Post ins Ferienhaus umleiten oder Zahlungen erledigen – das alles geht per App. Auch für die Post gilt die Regel: Sie muss dorthin, wo die Leute sind, also aufs Smartphone.
So kommt es, dass die Migros bis spätestens in drei Jahren über mehr Filialen verfügen als die Post. Der orange Riese überholt den gelben. Besser lässt sich kaum zeigen, wie sehr der Post ihre einst identitätsstiftende Rolle für die Schweiz abhanden gekommen ist. Die Post ist heute ein Dienstleister von vielen. Ein Gigant der Vergangenheit, der sich aus Dörfern und Städten zurückzieht und damit langsam auch aus der öffentlichen Wahrnehmung verschwindet.
Prunkbauten an bester Lage
Historisch gesehen, erfolgte die Weichenstellung schon Ende der 1980er Jahren, als der Wandel der Post vom staatlichen Monopolisten zum wirtschaftlichen Unternehmen begann. Die Digitalisierung beschleunigte diesen Prozess. Das Geschäft mit der Briefpost erodierte, bei der Paketpost setzte ein gnadenloser Konkurrenzkampf ein, Einzahlungen gingen zurück. Immer mehr Kunden verliessen den Schalterraum – es war der Anfang vom Ende der traditionellen Post.
Von 4100 Poststellen in den 1970er-Jahren verschwanden bis zur Jahrtausendwende rund 800. Danach beschleunigte sich der Abbau massiv. Ende 2022 betrieb die Post noch 773 eigene Filialen. Heute verfügt die Post über weniger eigene Filialen als ein Jahr nach ihrer Gründung im Jahre 1850, bald werden es weniger als halb so viele sein.
Es ist der Gegentrend zur Gründungszeit des noch jungen Bundesstaates, als die Post zum mächtigen gesellschaftspolitischen Player aufstieg. Wie kaum eine andere Institution verstand es die Post während Jahrzehnten, sich als nationale Klammer zu inszenieren. Die Post drängte ins Land, eröffnete Filiale um Filiale und demonstrierte ihre Potenz mit Prunkbauten an bester Lage. Nur das Beste war gut genug.
In Basel beispielsweise übernahm die Post im Jahr 1853 einen imposanten Sandsteinbau nur wenige Schritte vom Rathaus entfernt. Pakete und Briefe wurden dort in einer riesigen neugotischen Halle mit Kreuzgewölbe aufgegeben, noch bis vor wenigen Jahren. Die «Hauptpost» – das war nicht in erster Linie ein Ort zur Erledigung von postalischen Angelegenheiten, sondern ein städtebaulicher Bezugspunkt, lange Zeit sogar mit eigener Tramhaltestelle.
Ein Pas-de-deux von Post und Politik
In fast allen Städten entstanden zu dieser Zeit solche Post-Paläste. Zum Beispiel das frühere Postamt in Frauenfeld, ein stolzes Gebäude mit markantem Kuppeldach. Entworfen wurde es 1898 von Theodor Gohl. Als oberster Architekt der Direktion der Eidgenössischen Bauten baute Gohl um die Jahrhundertwende in der ganzen Schweiz mehrere Postgebäude und trug so massgeblich zum baulichen Selbstbewusstsein der Institution bei.
So ist nur folgerichtig, dass sich die Post auch mitten ins Berner Machtzentrum einnistete: Im Bundeshaus selber, einige Meter vom Bundesratszimmer entfernt, betrieb sie bis Mitte der nuller Jahre einen eigenen Schalter. Geschmückt wurde er mit Fenstern des ehemaligen Ständeratssaales – ein pas-de-deux von Politik und Post. Lange Zeit waren Amtsstellen verpflichtet, die Post über die hauseigene Filiale abzuwickeln. Beinahe unnötig zu betonen, dass die Bundesverwaltung bis heute über eine eigene Postleitzahl verfügt: 3003 Bern.
Doch auch auf dem Land, wo Macht weit weg war und die Postgebäude weniger eindrücklich ausfielen, verstand sich die Post als Institution mit Ankerfunktion. In vielen Dörfern bildete die Poststelle zusammen mit dem örtlichen Wirtshaus und der Dorfkirche das Zentrum des öffentlichen Lebens. Posthalter übten ihr Amt oft über Jahrzehnte aus, bis sie es an ihre Nachkommen übergaben. Oft wussten sie mehr über die Leute als Autoritäten wie der Pfarrer oder der Lehrer, Postgeheimnis hin oder her.
Die Schliessung von Poststellen war deshalb regelmässig begleitet von wütenden Protestaktionen und emotionalen Abschiedsszenen am letzten Tag. Auf dem Land, wo die Entwicklung zuerst spürbar wurde, weckte sie die Angst, abgehängt zu werden und in die Bedeutungslosigkeit zu verschwinden. Doch interessanterweise reagierten die Zentren ganz ähnlich. Als vor sieben Jahren die Schliessung der Basler Hauptpost erstmals ein Thema war, wurde draussen vor dem Gebäude heftig demonstriert. Auch das bürgerliche Lager warnte vor einer Verarmung der Innenstadt.
Ogi appelliert an Rösti
Das setzte gewaltige politische Energie frei. Unzählige parlamentarische Vorstösse in kantonalen Parlamenten und in den eidgenössischen Räten sowie zwei Volksinitiativen wurden in den vergangenen zwei Jahrzehnten im Zusammenhang mit dem Abbau des Poststellennetzes lanciert. Zuletzt forderte Adolf Ogi Verkehrsminister Albert Rösti bei einer Veranstaltung auf, den Niedergang des Filialnetzes zu stoppen: «Rösti soll dafür sorgen, dass die Gemeinden in der Schweiz wieder eine vernünftige Postfiliale haben.»
Doch der Widerstand der Bevölkerung und der Politik änderte am ungebremsten Abbau praktisch nichts. Sämtliche Forderungen hatten letztlich wenig Durchschlagskraft. Denn mehr und mehr setzt sich die Erkenntnis durch, dass die Post nicht mehr – wie im 19. und 20. Jahrhundert – Teil der «Idee Schweiz» ist. Der Aufschrei über die Schliessung weiterer Filialen wird leiser und blieb am Mittwoch praktisch aus.
Je mehr sich die Post selber von ihrem früheren Selbstverständnis verabschiedet und ökonomischen Zwängen folgt, desto grösser wird der Pragmatismus bei Kundinnen und Kunden. Briefe und postalische Einzahlungen haben für sie immer weniger Bedeutung. Auch die lange Zeit als Filialen zweiter Klasse wahrgenommenen Postagenturen in Bäckereien und Dorfläden entwickeln sich zum Erfolg. Es gibt in der Schweiz inzwischen fast doppelt so viele Agenturen wie klassische Filialen – und für die Zulieferung von Zalando-Paketen reicht ein Kleinbus aus.
Der Mythos Post ist längst Geschichte. Nun geht auch die Trauerzeit über sein Verschwinden zu Ende.