In einer Dokumentation von Disney+ wird gezeigt, wie die Konkurrenz zu den Beatles die Kreativität der kalifornischen Surfband befeuerte. Für künstlerische Krisen sorgten derweil familiäre Spannungen.
Die Legende beginnt mit dem Namen: Die Beach Boys fühlten sich am Strand nicht in ihrem Element. Sie wuchsen zwar in Hawthorne, Kalifornien, auf. Irgendwann hätten sie sich alle mit einem Surfbrett in den Pazifik gewagt. Brian und Carl Wilson aber, beide etwas untersetzt und unsicher in der Balance, sollen von sich überschlagenden Wellen rasch auf das Festland zurückgespült worden sein. Einzig der Sunnyboy Dennis, der Mittlere der Wilson-Brüder, machte eine gute Figur auf dem Brett.
Solche Realien aus dem Familienleben der Wilsons werden in «The Beach Boys», einem neuen Film auf Disney+, durch historische und neuere Interviews mit den Musikern vermittelt. Die Regisseure Frank Marshall and Thom Zimny haben das Thema Familie ins Zentrum ihrer knapp zweistündigen Dokumentation gesetzt. Zwar wurden die drei singenden Brüder Brian, Dennis und Carl Wilson stets durch Mitglieder ausserhalb der Kernfamilie unterstützt – bei der Gründung waren das der Cousin Mike Love und Brians Kumpan Alan Jardine. Die Familienbande aber hat das Schicksal dieser Gruppe geprägt.
Singen im Auto
Schon der Vater war Songwriter, die Mutter Sängerin. An besonders schönen Tagen fuhren sie ihre Söhne im Auto über Land. Und die Brüder formierten sich auf der Rückbank zum Gesangstrio. Bei der Gründung der Band brauchte es deshalb kein Casting, kein Auswahlverfahren bezüglich Können und Aussehen.
Vater Murry Wilson hat die Beach Boys zu Beginn gefördert und war ihr Manager. Er war es auch, der bald einen Vertrag mit dem Plattenlabel Capitol abschliessen konnte. Aber auch die Mutter und die weitere Verwandtschaft machten sich stark für das Projekt dieser jungen Sänger, die die amerikanische Jugendkultur mitbestimmten, ohne einen Generationenkonflikt zu bemühen wie die anderen Rock-Pioniere.
Den eigenen Musikstil prägte Brian Wilson. Er liess sich von Gesangsgruppen aus der Swing- und Doo-Wop-Szene beeinflussen. Insbesondere The Four Freshmen hatten es ihm angetan. Stundenlang soll er am Piano gesessen haben, um die Arrangements des Quartetts herauszuschreiben. So rüstete er sich für das Songwriting. Und Mike Love, der sich als Texter an Brians Seite stellte, fand dann die richtigen Themen und Mythen wie das Surfen.
Titeln wie «Surfin» oder «Surfin Safari» verdankten die Beach Boys ihren Namen. Bei Capitol hat man sich rasch für ein Image entschlossen. Man steckte die braven Jungs in gestreifte oder karierte Hemden und liess sie auf Bildstrecken und Plattencovers zu viert ein Surfbrett tragen. So wurden sie zum Inbegriff eines kalifornischen Lebensideals, das sich um Sonne, Surfen und die kalifornischen Mädchen drehte, die bald kreischend und heulend ihre Konzerte besuchten.
Der durchschlagende Erfolg sorgte allerdings für einen ersten Kippmoment in der Karriere der Band. Brian Wilson wurden die Konzerttourneen bald zu viel, 1964 erlitt er auf der Reise einen Nervenzusammenbruch. Fortan tourte die Band ohne ihren Leader, der die Zeit nutzte, um im Studio an einem neuen Repertoire zu basteln.
Dafür war es höchste Zeit, weil den Beach Boys plötzlich eine Band aus Britannien Konkurrenz machte. Die Beatles seien vulgärer gewesen und hätten so eine «ganz andere Energie» in die Pop-Musik gebracht, sagt Alan Jardine in der neuen Dokumentation von Disney+. Brian Wilson war zunächst nicht begeistert von älteren Beatles-Hits wie «I Wanna Hold Your Hand».
Als die vier Briten ihren Sound auf den Alben «Rubber Soul» (1965) und «Revolver» (1966) immer raffinierter aufbereiteten, fühlte er sich herausgefordert. Brian Wilson sorgte mit der Produktion der «Pet Sounds» (1966) für eine künstlerische Antwort, von der sich wiederum John Lennon und Paul McCartney beeindrucken liessen: Sie staunten über das harmonische Geschick und die klangliche Vielfalt. Der künstlerischen Konkurrenz der beiden Bands verdankte die Pop-Szene weitere bahnbrechende Aufnahmen wie den aufwendigen Song «Good Vibrations» (1966) von den Beach Boys und das Konzeptalbum «Sgt. Pepper» (1967) von den Beatles.
In «The Beach Boys» sorgen Musikexperten wie Lindsey Buckingham (Fleetwood Mac), der Produzent Don Was oder die R’n’B-Sängerin Janelle Monáe für die künstlerische Würdigung der Beach Boys. Nicht ohne Patriotismus ist es der amerikanischen Produktion offenbar daran gelegen, die kalifornischen Pioniere, was die Pop-kulturellen Bedeutung betrifft, auf das Niveau der Beatles zu heben.
Diesem Engagement verdankt der Film eine ansteckende Euphorie ebenso wie eine gewisse Idealisierung der Protagonisten. Denn bei allem musikalischen Raffinement: Hat es dem Sound der Beach Boys nicht stets an viszeraler Schärfe und Erdigkeit gemangelt? Und den Musikern selbst an Sex-Appeal und rebellischer Coolness?
Die Rache des Vaters
Während die Beach Boys live weiterhin ihre gefälligen Surf-Songs zum Besten gaben, versuchte der Songwriter und Produzent Brian Wilson gegen Ende der sechziger Jahre jedoch in tiefere Schichten der menschlichen Seele einzudringen. Weil er sich dabei mit neuen Textern wie Tony Asher und Van Dyke Parks zusammentat, kam es zu Spannungen mit Mike Love. Und je mehr der Bandleader als Genie der Gruppe hervorgehoben wurde, desto schwieriger wurde das Verhältnis zu den anderen Bandmitgliedern.
Problematischer noch war das Verhältnis zu Murry Wilson. Der Vater, der seine Jungs einst geschlagen hatte, störte mit seiner familiären Autorität die kreativen Prozesse der Band und wurde schliesslich ausrangiert. Zu den Höhepunkten der Dokumentation zählen Aufnahmen aus dem Studio, auf denen Klagen des schwer gekränkten Vaters zu hören sind. Trotz Trennung verwaltete Murry Wilson allerdings weiterhin die Rechte an den Songs. Als er sie Ende der sechziger Jahre selbstherrlich verkaufte, ohne auf die Söhne Rücksicht zu nehmen, stürzte das Brian in eine Depression. Er musste sich aus der Band zurückziehen.
Ohnehin entsprachen die Beach Boys nun immer weniger der amerikanischen Jugend, die unterdessen in den Bann von Sex und Drogen, von Hippie-Szene und Bürgerrechtsbewegung geraten war. Die Band fiel sozusagen aus der Zeit, während ihre Songs sich bis heute als ebenso zeitlos behaupten wie die kalifornischen Klischees von «Fun, Fun, Fun».