Mit der Begnadigung seines Sohnes Hunter verabschiedet sich Präsident Biden als Heuchler aus dem Weissen Haus. Donald Trump wird dies als Freipass für seinen eigenen Umgang mit der Justiz verstehen.
Bis zu einem gewissen Grad kann man die Argumentation des amerikanischen Präsident Joe Biden sogar nachvollziehen. Natürlich wurde sein Sohn Hunter von den Republikanern im Kongress und in den ihnen nahestehenden Medien jahrelang gejagt, weil er der Sohn des Präsidenten ist. Die beiden Strafverfahren, die schliesslich mit riesiger Medienaufmerksamkeit gegen ihn zustande kamen, wären gegen irgendeine beliebige Person bei ähnlichen Vergehen wahrscheinlich weniger scharf verlaufen. Das Justizministerium gab sich jedenfalls alle Mühe, um den Eindruck zu vermeiden, es behandle den Präsidentensohn milder als jeden anderen Verdächtigen.
Doch das ist keine Entschuldigung. Hunter Biden musste nicht nur den Nachteil einer besonders genauen öffentlichen Überprüfung seiner Person erdulden, weil er der Sohn des Präsidenten und früheren Vizepräsidenten ist. Er kam auch in den Genuss riesiger Vorteile, die er schamlos ausgenutzt hatte. Dank seiner familiären Situation ergatterte er für sich Verwaltungsratsmandate und Aufträge bei ausländischen Unternehmen, die dafür auf eine Sonderbehandlung durch den mächtigen Vater hofften. Eine solche Gegenleistung konnte dem Präsidenten zwar nie nachgewiesen werden. Hunter bezog dennoch Millioneneinkommen, die er in erster Linie als Sohn des Vizepräsidenten und nicht als erfahrener Berater oder Manager erhielt. Es sind zwei Seiten derselben Medaille.
Joe Biden ist nicht irgendein Vater
Präsident Biden sucht in seiner Mitteilung vom Sonntagabend Verständnis bei den Bürgern zu wecken: Welcher Vater würde sich nicht ähnlich mitfühlend für seinen Sohn einsetzen, wenn er könnte? Doch das trifft die Sache in keiner Weise. Biden ist nicht irgendein Vater. Er ist der Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika. Als solcher unterliegt er ganz anderen moralischen Anforderungen – und daraus folgenden Bürden – als jeder normale Bürger.
Das trifft besonders auf einen Präsidenten zu, der 2020 als angeblicher Gegenpol zu Donald Trump angetreten war: als der moralisch überlegene Mann, der die USA nach vier Jahren unter dem verkommenen Narzissten Trump wieder auf den rechten Weg zurückführen werde. Nun steht derselbe Präsident Biden nackt da, entblösst von seiner eigenen moralischen Heuchelei. Als ein Mann, der das Familieninteresse über die hohen Standards seines Amts und des Rechtsstaates stellt. Zwar hat Biden das Recht, seinen Sohn zu begnadigen. Er ist auch nicht der erste Präsident, der wegen einer Begnadigung kurz vor seinem Ausscheiden in die Schlagzeilen gerät. Ehrbar ist das deswegen nicht.
Steilvorlage für Donald Trump
Mittlerweile steht fest, dass die Wähler die angebliche moralische Überlegenheit Bidens und der Demokraten nicht honoriert haben. Trotz einer Verurteilung als Straftäter und mehreren weiteren laufenden Strafverfahren, trotz der grossen Wahllüge von 2020 und dem Sturm auf das Capitol am 6. Januar 2021, trotz der ganz offen demonstrierten Geringschätzung rechtsstaatlicher Werte wurde Donald Trump ein zweites Mal zum Präsidenten gewählt. Moral und Rechtschaffenheit garantieren offenkundig keinen Wahlsieg, wichtiger sind den Wählern praktische Dinge wie das Wirtschaftsprogramm oder der Grenzschutz. Doch das entschuldigt keine Heuchelei.
Biden schädigt mit der Schwäche für seinen Sohn nicht nur sein eigenes, sorgfältig poliertes Image als Saubermann. Er liefert ausgerechnet seinem Nachfolger die Vorlage, um sich selbst eigennützig der Justiz zu bedienen. Trump hat im Wahlkampf unverhohlen angekündigt, dass er die Justiz zur Verfolgung seiner politischen Gegner benutzen werde. Bereits hat er loyale Anhänger für die Spitzenposten des Justizministeriums, des FBI und der Geheimdienste nominiert. Sollte es wirklich zu Missbräuchen kommen, werden er und seine Parteigenossen zur Relativierung stets mit dem Finger auf Joe Biden zeigen.







