Die Netanyahu-Regierung plant, weite Teile des Gazastreifens zu erobern und möglicherweise langfristig besetzt zu halten. Hilfsorganisationen, aber auch ehemalige und aktive israelische Militärs warnen vor den Konsequenzen.
Der Übername von Israels neuer Offensive im Gazastreifen lässt kaum Platz für Zweifel. In der Nacht auf Montag hat das Kabinett von Ministerpräsident Benjamin Netanyahu die Operation «Gideons Streitwagen» beschlossen. Auf Hebräisch bedeutet der Name des alttestamentarischen Richters und Feldherren Gideon «der Zerhacker» oder «der Zerstörer». Die Hamas soll nach anderthalb Jahren Krieg endgültig vernichtet werden.
Israel mobilisiert derzeit Zehntausende Reservisten, die schon ab nächster Woche zum Dienst erscheinen sollen – falls die Terrororganisation Hamas bis dahin nicht die Geiseln freilässt und ihre Waffen niederlegt. Angeblich will die Regierung mit dem Beginn der Operation zuwarten, bis US-Präsident Donald Trump seinen Besuch in Saudiarabien, Katar und den Emiraten am 16. Mai beendet hat – es bleibe noch ein Zeitfenster, um doch noch eine Waffenruhe zu vereinbaren, hiess es aus Sicherheitskreisen.
Die Ziele: Besetzung und «Umsiedlung»
Das Ziel der Offensive hat Ministerpräsident Benjamin Netanyahu ausgegeben: Anders als zuvor sollen die Soldaten sich nach Kampfeinsätzen nicht mehr zurückziehen, sondern Gebiete im Gazastreifen erobern und besetzen. Zudem soll die sogenannte israelische Pufferzone ausgeweitet werden.
«Die Bevölkerung wird zu ihrem eigenen Schutz umgesiedelt», sagte Netanyahu in einer Videobotschaft auf X in Bezug auf die über zwei Millionen Palästinenser in dem Küstenstreifen. Laut israelischen Medienberichten sollen die Menschen in eine einzige «sterile Zone» im Süden Gazas um die Stadt Rafah getrieben werden, wo die israelische Armee bereits so gut wie alle Gebäude zerstört hat.
Auf den Strassen, die nach Rafah führen, will die Armee angeblich Checkpoints einrichten, an denen Terroristen von Zivilisten getrennt werden sollen. Im Grunde würden die Streitkräfte damit den umstrittenen «Plan der Generäle» umsetzen. Der Vorschlag israelischer Ex-Offiziere sieht eine Trennung von Zivilisten und Terroristen sowie eine Besetzung des nördlichen Gazastreifens vor.
Der erste Schritt zu einer permanenten Besetzung?
Bereits haben israelische Regierungsmitglieder angekündigt, dass Israel den gesamten Gazastreifen besetzen werde. Diese Aussagen kamen nicht nur von rechtsextremen Politikern wie Finanzminister Bezalel Smotrich. Auch der Kultur- und Sportminister Miki Zohar von Netanyahus Likud-Partei forderte eine vollständige Besetzung der Küstenenklave.
Der ehemalige israelische Brigadegeneral Ephraim Sneh sieht die beschlossenen Pläne kritisch. In einem Gespräch mit Journalisten sagt der frühere stellvertretende Verteidigungsminister, dass es Israel «kein bisschen nützt, wenn es die Verantwortung über das Leben von 2,2 Millionen Palästinensern in Gaza übernimmt». Der Plan sei kein Weg, um den Krieg zu gewinnen, da keine politische Alternative zur Hamas als Regierungskraft in Gaza aufgebaut werde.
Die geplante Operation nütze vor allem den dominanten Kräften in der rechts-religiösen Regierung, die die Wiederbesiedlung des Gazastreifens fordern. Finanzminister Smotrich etwa spricht sich offen für die «freiwillige Emigration» Hunderttausender Palästinenser sowie die Errichtung jüdischer Siedlungen in dem Gebiet aus. Allerdings hat sich bisher kein Land bereit erklärt, Palästinenser aus Gaza aufzunehmen.
Israels neuer Plan für Hilfslieferungen
Ausserdem hat Israels Regierung einen neuen Mechanismus für die Verteilung humanitärer Hilfsgüter beschlossen. Nach einer mehr als zweimonatigen Blockade sollen nach Beginn der Militäroperation private Sicherheitsfirmen dafür zuständig sein, Lebensmittelpakete an Palästinenser zu verteilen. Vorher überprüfte Zivilisten sollen an sechs Verteilzentren im Süden des Gazastreifens Hilfsgüter empfangen können. Laut einem Bericht der «Washington Post» sollen pro Tag 60 Lastwagen den Küstenstreifen erreichen – während der jüngsten Waffenruhe waren es täglich 600 LKW gewesen.
Das Uno-Nothilfebüro Ocha kritisiert das Vorhaben scharf. «Der uns vorgelegte Plan wird dazu führen, dass grosse Teile des Gazastreifens, einschliesslich der weniger mobilen und am stärksten gefährdeten Menschen, weiterhin ohne Versorgungsgüter auskommen müssen», schreibt die Organisation. «Als humanitäre Helfer können wir nicht in einem Rahmen arbeiten, in dem Hilfslieferungen als ein Instrument für militärischen und politischen Druck eingesetzt werden», sagt die für den Gazastreifen zuständige Ocha-Sprecherin Olga Cherevko im Gespräch.
Schwindende Hoffnung für die Geiseln
Viele Israeli werfen Netanyahu indes vor, mit dem nun gefassten Beschluss die 59 in Gaza verbleibenden Geiseln im Stich zu lassen, von denen bis zu 24 noch am Leben sind. Gemäss Umfragen sind über zwei Drittel der Israeli für ein Kriegsende, um die Geiseln zurückzubringen. Selbst Israels Armeechef Eyal Zamir hat laut Berichten die Regierung davor gewarnt, dass intensivere Kampfhandlungen die verschleppten Israeli gefährden würden. Auch Nitzan Alon, der in Israels Armee für Geiselangelegenheiten verantwortlich ist, soll davor gewarnt haben, dass die Terroristen umso gewalttätiger gegenüber den Verschleppten werden könnten, je härter die Armee zuschlage.
Bisher gibt sich die Hamas trotz dem neuen israelischen Plan unnachgiebig. Es sei sinnlos, Gespräche zu führen oder neue Waffenstillstandsvorschläge in Betracht zu ziehen, solange Israel seinen Krieg fortsetze, sagte am Dienstag Basem Naim, ein hochrangiges Hamas-Mitglied.
«Ich würde dagegen wetten, dass die Hamas sich auf eine Übereinkunft einlässt», sagt der israelische Sicherheitsexperte Eitan Shamir im Gespräch. Er hält einen fortgesetzten Krieg für das wahrscheinlichere Szenario. Wegen der eingesetzten Reservisten werde das für Israel ein schwieriger Einsatz. «Doch es ist nicht unmöglich, Israel kann den Gaza-Krieg noch länger weiterführen.»
Nun dürften alle Augen auf Trump gerichtet sein. Der Präsident der USA hatte sich zuletzt mit Aussagen zum Gaza-Krieg zurückgehalten. Sein Besuch auf der arabischen Halbinsel in der kommenden Woche wird zeigen, ob die Diplomatie in diesem Krieg noch eine Chance hat.