Seit über zweihundert Jahren werden an der Piazza della Minerva im Herzen Roms Kleider für Kleriker geschneidert. Es ist ein ruhiges Geschäft mit viel Handarbeit. Doch wenn sich der Herbst eines Pontifikats anbahnt, geht der Puls der Mitarbeiter etwas schneller.
Diskretion ist hier oberstes Gebot. Die Zusage für einen Augenschein kommt innert nützlicher Frist, aber mit einer Einschränkung. «Bitte keine Aufnahmen von uns. Und auf gar keinen Fall Fotos von unseren Kunden.» Alessia und ihr Cousin Massimiliano Gammarelli sind bestimmt, aber freundlich und kompetent. Die Inhaber der päpstlichen Schneiderei wissen, worauf es in diesem Geschäft ankommt.
Gammarelli braucht kaum Laufkundschaft. Und obwohl der Laden mitten im Zentrum der Ewigen Stadt liegt, verirren sich nur selten Touristen hierhin. Die Kunden sind Monsignori, Bischöfe, Kardinäle – und sogar der Papst. «Sartoria per ecclesiatici», Schneiderei für Kleriker, heisst es auf dem Schild über dem Eingang. Es ist eine kleine Zielgruppe, aber eine, die mit klaren Vorstellungen (und Vorgaben) in das Geschäft kommt und auf keinen Fall dabei beobachtet werden will, wie sie Kleider anprobiert.
Diskretion also. Auf andere Ideen würde man in dem kleinen Geschäft aber auch gar nicht kommen. Die Unterhaltungen sind gedämpft, die vielen edlen Textilien schlucken jeden lauten Ton. Und die diskreten Angestellten im Verkaufsraum wirken wie Bankangestellte früherer Zeiten, wenn sie hohe Bargeldsummen durch den Schalter schoben oder den Weg zum Tresorraum wiesen.
Um Wertsachen geht es auch bei Gammarelli. Allerdings um solche von immaterieller Bedeutung: Würde, Weihe, Status, auch Macht – abgebildet durch die Vielzahl liturgischer Gewänder des katholischen Klerus.
In Familienhand
Reformierte Pfarrer tragen meist einen dunklen Anzug beim Sonntagsgottesdienst, allenfalls einen Talar mit Beffchen, weissen Halsbinden aus Leinen. Ihre katholischen Kollegen hingegen dürfen bei religiösen Feiern nicht auftreten, ohne die textile Ordnung zu beachten, die der Ritus vorgibt. Die Liste von Gewändern und Accessoires ist riesig: Sie reicht von Albe (weisse Tunika) bis Zingulum (Gürtel). Es ist ein Wortschatz eigener Art, den nur Eingeweihte beherrschen.
Die Gammarellis kennen ihn auswendig. Seit 1798 schneidert die Familie Kleider für Kleriker. Das Geschäft gleich hinter dem Pantheon wird inzwischen in sechster Generation von der Familie geführt, die nächste Generation stehe schon bereit, sagt Massimiliano Gammarelli.
Alles wird hier von Hand gefertigt, im Atelier im ersten Stock, das über eine Wendeltreppe erschlossen ist. Computer gibt es nur im kleinen Büro neben dem Ladengeschäft. Darüber hängen Porträts der Familie: Urgrossväter, Grossväter, Onkel, Cousins.
Als am 12. Juli 2016 Massimilianos Onkel Annibale verstarb, publizierte der «Osservatore Romano», das Zentralorgan des Heiligen Stuhls, einen Nachruf. Der «Commendatore» Annibale Gammarelli sei verstorben, meldete der Osservatore und verwendete dabei einen italienischen Ehrentitel, der das Selbstverständnis der Schneiderei gut umschreibt.
Bis zum Zweiten Vatikanischen Konzil vor sechzig Jahren durfte sich Gammarelli offiziell «päpstliche Hofschneiderei» nennen. Urkunden, die im Eingangsbereich des Ladens aufgehängt sind, zeugen von dieser ruhmreichen Geschichte. Dann endete im Vatikan die Ära des feudalen Hofstaates. Papst Paul VI. räumte mit den Strukturen und der Mentalität der höfischen Vergangenheit auf. Auch die Kleiderordnung wurde vereinfacht. Als wir ihn darauf ansprechen, meinen wir in Massimiliano Gammarellis Miene den Ausdruck leichten Bedauerns zu erkennen. Doch er schweigt – Diskretion verpflichtet.
Warten auf den Anruf
Trotz dem historischen Einschnitt vor rund sechzig Jahren verfügen die Gammarellis nach wie vor über eine privilegierte Stellung. Sie ist zwar nicht mehr «amtlich» verbrieft, aber historisch gewachsen.
Konkurrenz gibt es sehr wohl. In der Gegend um das Pantheon befinden sich weitere Kleriker-Fachhandlungen. Sie heissen Desta, Ghezzi und Barbiconi und bilden zusammen mit Gammarelli etwas, was man neudeutsch wohl ein Cluster nennen würde, ein Netz von Firmen, die im gleichen Sektor arbeiten. «Wir pflegen ein gutes Verhältnis untereinander», sagt Massimiliano Gammarelli.
Doch nur sein Geschäft hat sich bis in die jüngste Vergangenheit den wahrscheinlich prestigeträchtigsten Auftrag gesichert, den der Vatikan in dieser Branche zu vergeben hat: die Gewänder für den neuen Papst zu schneidern.
Immer, wenn sich ein Pontifikat seinem Ende zuneigt, geht deshalb der Puls im beschaulichen Laden der Gammarellis etwas schneller. Kommt schon bald der Anruf von «oltretevere», von der anderen Seite des Tibers? Können wir wieder liefern?
Man darf davon ausgehen, dass die jüngste schwere Erkrankung von Papst Franziskus und die medizinischen Bulletins aus der Gemelli-Klinik in der Schneiderei an der Piazza della Minerva mit besonderer Aufmerksamkeit verfolgt wurden.
Denn: Stirbt der Papst, pressiert’s. Erfolgt der Anruf und damit der Auftrag, müssen die Gewänder innert kürzester Zeit bereitstehen, und zwar noch vor dem Konklave, der Wahlversammlung der Kardinäle. Diese könne eine Stunde dauern oder ein Jahr, sagt Massimiliano Gammarelli. Man müsse auf alles vorbereitet sein. Als Profi verfolgt er jeweils die Diskussionen und Machtspiele im Vatikan und malt sich aus, wer der künftige Pontifex werden – und über welche Masse dieser ungefähr verfügen – könnte. Bei der Nachfolge von Johannes Paul II. habe Joseph Ratzinger zum engsten Favoritenkreis gezählt, sagt er.
Mass nehmen am Papst
Drei Gewänder schickt Gammarelli jeweils in den Vatikan, wenn es so weit ist: je eines in der Grösse S, M und L. Damit ist ungefähr das Spektrum der möglichen papalen Leibesfüllen abgedeckt. Steigt weisser Rauch aus dem Kamin der Sixtinischen Kapelle, wissen die Schneider an der Piazza della Minerva: Bald grüsst der neue Papst von der Loggia des Petersdoms in neuen Kleidern – hergestellt aus feinster Wolle italienischer Provenienz. Was in sorgfältiger Kleinarbeit im Atelier der Gammarellis zusammengenäht worden ist, wird nun weltöffentlich.
Aus der Premiere wird in der Regel eine stabile Geschäftsbeziehung. Jedenfalls haben alle Päpste der jüngeren Zeit weitere Bestellungen bei Gammarelli aufgegeben. Massimiliano Gammarelli eilt dann jeweils in den Vatikan, um Mass zu nehmen und um den Pontifex bei der Anprobe zu unterstützen. Er wisse um das Privileg, den Papst in einem besonderen Moment zu erleben. Mehr sagen will er nicht.
Nur einmal, so heisst es in den Annalen, sei es zu einer Panne gekommen – als Johannes XXIII. gewählt wurde. Er habe kaum in sein neues, zu eng geschnittenes Kleid gepasst, schrieben die Journalisten. Dass diese Geschichte heute, 67 Jahre später, immer noch kursiert, wurmt die Gammarellis. Denn der Fehler habe nicht bei ihnen gelegen. Die Mitarbeiter des Heiligen Vaters hätten damals schlicht in die falsche Schachtel gegriffen – und die falsche Grösse gewählt.