Die Aufarbeitung des verheerendsten Brands eines Wohnhauses seit dem Zweiten Weltkrieg zeigt, dass alle 72 Todesopfer vermeidbar gewesen wären. Doch auf Strafklagen müssen die Hinterbliebenen weiter warten.
Die Bilder des lichterloh brennenden Hochhauses Grenfell Tower im Londoner Nachthimmel gingen im Juni 2017 um die Welt – und haben sich fest in das Gedächtnis der Britinnen und Briten eingeprägt. 72 Personen kamen ums Leben, womit das Unglück als verheerendster Brand in einem Wohngebäude seit den Nazi-Bombenangriffen im Zweiten Weltkrieg in die britische Geschichte einging. Sieben Jahre später hat am Mittwoch nun eine offizielle Untersuchungskommission unter dem Vorsitz des Richters Martin Moore-Bick einen 1700 Seiten starken Bericht zu den Ursachen der Brandkatastrophe vorgelegt. Sie ist zu dem Schluss gekommen, dass alle 72 Todesopfer vermeidbar gewesen wären.
Brennbare Materialien
Es ist tatsächlich erklärungsbedürftig, wie sich ein Küchenbrand in einer von 129 Wohnungen in der Nacht auf den 17. Juni 2017 innert kürzester Zeit zu einer Feuersbrunst ausweiten konnte. Kurz vor 1 Uhr morgens löste ein elektrischer Defekt in einem Kühlschrank im vierten Stock das Feuer aus. Nach wenigen Minuten drangen die Flammen durch das Küchenfenster, worauf die Aussenfassade Feuer fing. Zwanzig Minuten später waren die Flammen der Ostfassade des Gebäudes entlang bis ins 24. und oberste Stockwerk geklettert. Alsbald umkreiste die Front des Brandes das ganze Gebäude.
Die knapp 600 Anwohner wurden zuerst angewiesen, in ihren Wohnungen zu bleiben. Die meisten Opfer erstickten am giftigen Rauch, noch bevor die Flammen die Sozialwohnungen erreichten. Viele der Verstorbenen, deren Namen Moore-Bick bei der Präsentation des Berichtes einzeln verlas, waren Migranten oder Briten mit Wurzeln in den ehemaligen Kolonien.
Dass sich der im brutalistischen Stil erbaute Block mit Sozialwohnungen innert Minuten in ein Inferno verwandeln konnte, ist gemäss dem Untersuchungsbericht das «Ergebnis eines jahrzehntelangen Versagens». Moore-Bick sprach von Verfehlungen der britischen Regierungen und Behörden, aber auch von Baufirmen, Architekten und Herstellern von Baumaterialien.
Als Hauptgrund für die Tragödie erscheint, dass bei der Umrüstung des Grenfell Tower 2015 Verkleidungsmaterialien aus Aluminium und einem Kern aus dem Kunststoff Polyethylen genutzt wurden. Diese wirkten beim Unglück wie ein Brandbeschleuniger. Im Zentrum der Kritik steht die amerikanische Firma Arconic: Deren französische Tochterfirma hatte die Verkleidung für die Aussenwand des Hochhauses hergestellt.
Laut dem Untersuchungsbericht war sich Arconic gewisser Risiken durchaus bewusst. Doch sei die Firma gewillt gewesen, «schwache regulatorische Regime» in Ländern wie dem Vereinigten Königreich auszunutzen. Der Untersuchungskommission lagen E-Mails vor, die nahelegten, dass Arconic Informationen zu den Risiken ihres Produkts «auf vorsätzliche und betrügerische Weise» verschleiert hatte.
Ignorierte Sicherheitsfragen
In der Kritik stehen auch die Architekturfirma sowie Bauunternehmen, die bei der Renovation des Hochhauses leichtfertig mit dem Brandschutz umgegangen seien. Einen wesentlichen Teil der Verantwortung sieht die Untersuchungskommission beim Staat. So hätten Beamte und Minister abweisend reagiert, wenn Unterhausabgeordnete noch vor dem Grenfell-Unglück Fragen zu den Risiken gewisser Verkleidungsmaterialien gestellt hätten.
Der konservativen Regierung von David Cameron wirft die Kommission vor, sie habe in ihrem Bestreben zur Deregulierung und zum Abbau von Bürokratie Sicherheitsfragen ignoriert. Zuvor habe es aber auch die Labour-Regierung von Tony Blair trotz mehreren Warnungen unterlassen, die schwammigen Bauvorschriften zu verschärfen.
In der Kritik stehen auch die Lokalbehörden im wohlhabenden Stadtteil Kensington und Chelsea, die als Betreiber der Sozialwohnungen der Sicherheit der Bewohner keine Priorität beimassen, sowie die Leitung der Londoner Feuerwehr: Sie habe es verpasst, die Einsatzkräfte auf die bekannte Gefahr von brennenden Aussenfassaden vorzubereiten, was zur hohen Zahl von Todesopfern beigetragen habe.
Strafrechtliche Folgen?
Bei einer Erklärung im Unterhaus entschuldigte sich der Premierminister Keir Starmer im Namen des britischen Staats bei den Opfern und ihren Hinterbliebenen für das Versagen. Zudem drohte er mit Konsequenzen für Firmen und Hausbesitzer, welche brennbare Verkleidungsmaterialien an anderen Gebäuden bis heute nicht entfernt hätten. Starmer will überdies die Empfehlungen der Kommission prüfen, die unter anderem einen neuen Regulator für die Bauindustrie oder eine Revision von Sicherheitsvorschriften anregt.
Vertreter von Opfern zeigten sich zufrieden mit dem Abschlussbericht. Viele hoffen aber auch auf juristische Konsequenzen. Die Polizei ermittelt gegen Dutzende Personen und Firmen wegen möglicher Straftaten. Doch zum Missfallen der Angehörigen dürfte es noch mindestens zwei Jahre dauern, bis es zu Anklagen kommt. Aus formalen Gründen dürfen die von der Untersuchungskommission präsentierten Beweise und Zeugenaussagen nicht vor Gericht verwendet werden, was die Strafverfahren in die Länge zieht.
Dass die Untersuchungskommission die moralische Schuld auf viele Schultern verteilt hat, führt zu einer Verwischung der Verantwortlichkeiten. Gleichzeitig erhärtet sich der Eindruck eines systemischen Versagens. Für Schlagzeilen sorgte Anfang Jahr auch der Justizskandal um Postangestellte, die zu Unrecht des Diebstahls beschuldigt wurden. Im Mai kam eine Untersuchungskommission zu dem Schluss, dass britische Regierungen jahrzehntelang die Verantwortung für HIV-Infektionen von Blutern verschleiert hatten. Alle Fälle zeugen von der Arroganz einer Machtelite, die sich über die Interessen und Sicherheitsbedürfnisse der einfachen Bevölkerung hinwegsetzt.