Man solle zuerst zu sich finden und an den eigenen Gefühlen arbeiten, wenn man jemanden liebe, sagen Beziehungsratgeber. Sie irren, denn damit betrügt man sich selbst. Unabhängigkeit in Partnerschaft und Sexualität bedeutet nicht Glück, sondern Einsamkeit.
Die meisten Menschen mögen sich nach der wahren, lebenslangen Liebe sehnen und Hollywood-Romanzen geniessen, doch in der Realität des Alltags sieht es anders aus. Heute haben viele Mühe, die nötige emotionale Intimität und Verletzlichkeit für eine längere Beziehung aufzubauen. Dies zeigt eine repräsentative Umfrage des Gottman Institute: Fünfzig Prozent der Befragten geben an, sich in ihrer Beziehung emotional unsicher zu fühlen.
Die Scheidungsrate liegt in fast allen westlichen Ländern bei rund vierzig Prozent, zugleich ist die Zahl der Eheschliessungen rückläufig. Es werden also immer weniger Ehen geschlossen, und fast die Hälfte jener, die noch geschlossen werden, wird wieder geschieden.
Vor allem junge Menschen greifen gern auf Dating-Apps zurück, doch der digitale Partnermarkt führt zu einer erhöhten Anspruchs- und Konsumhaltung. Wie auf anderen Märkten auch dominieren Konkurrenzdenken und die Logik des guten Angebots, das jederzeit von einem noch besseren Angebot verdrängt werden kann. Das fördert selbst in bestehenden Partnerschaften eine Kultur der systematischen Vorläufigkeit. Die Fähigkeit, sich auf Bindungen einzulassen und sich ganz hinzugeben, schwindet.
Dies wäre aber eine entscheidende Fähigkeit. Mit den Worten der russisch-amerikanischen Anarchistin Emma Goldman: «Wenn man Liebe nicht bedingungslos geben und nehmen kann, ist es keine Liebe, sondern ein Handel, in dem ständig Plus und Minus gegeneinander abgewogen werden.»
Angst vor der eigenen Verletzlichkeit
Es gibt verschiedene Erklärungen dafür, dass man heute lieber abwägt, statt sich hinzugeben. Da ist einmal die Angst, seelisch nackt dazustehen und verletzt zu werden. Man fürchtet den Missbrauch der Hingabe, den Schmerz des Verrats, die Qual einer Trennung. Leider gibt es keinen Weg in die Liebe ohne dieses Risiko.
In diesem Zusammenhang lohnt sich ein Blick auf gegenwärtig erfolgreiche Liebesratgeberbücher, auf Podcasts oder Youtube-Videos. Diese beleuchten die individuelle Sprache des Begehrens, die emotionsfokussierte Paartherapie, den Partner als Spiegel des Selbst oder die neuste Achtsamkeitsschule in Sachen Körper und Kommunikation. Eine scheinbare Vielfalt an Themen und Ansätzen, zumindest an der Oberfläche.
Bei genauerem Hinsehen zeigt sich, dass die propagierten Vorstellungen sehr eingeschränkt sind. So geht man etwa allgemein davon aus, dass menschliche Freiheit und persönliche Entwicklung auf Autonomie und Wahlfreiheit beruhen. Je mehr Auswahl an Partnern, Jobs, Parteien oder materiellen Gütern das Ich hat, desto grösser der Raum der Freiheit.
Wenn Freiheit jedoch darin besteht, Optionen zu haben, dann muss jede verbindliche Entscheidung, die eine Option wegnimmt, etwa bei der Wahl des Partners, vermieden werden. Je mehr Verbindlichkeit, desto weniger Freiheit. Das erklärt nicht nur die Kultur der Vorläufigkeit. Es erklärt auch die Probleme, die viele mit der Monogamie haben. Man ist zwar eifersüchtig und leidet, wenn der andere fremdgeht, aber selber hätte man doch gern mehr sexuelle Optionen, schliesslich bedeutet auch hier Freiheit Wahlfreiheit.
Die stillschweigende Voraussetzung dieser zeittypischen Vorstellung des Daseins liesse sich so formulieren: Das Wesentliche, das den Menschen in die Freiheit führt, in die Liebe oder in den guten Sex, das ist die Frucht einer gelungenen Selbstentwicklung. Dabei ist es nicht nötig, den Raum der eigenen Ansprüche und Wünsche zu verlassen. Nein, man muss sogar achtsam in sich hineinhorchen. Nur so lässt sich der Weg zum tieferen Selbst erspüren und die toxische, der eigenen Entwicklung schadende Beziehung vermeiden.
Kein Mensch ist eine Insel
Der Mensch ist in seinem tiefsten Innern ein Beziehungswesen. Er konstituiert sich nicht selbst, auch nicht mit der grössten Achtsamkeit. Ja es gibt gar kein Ich ohne ein Du. Man kann nicht zu sich selbst kommen, ohne aus sich herauszugehen. Es gibt auch keine Liebe und Sexualität, die als Quelle des Ichs aus sich selbst hervorströmt, sondern das geschieht erst im Zusammenspiel mit anderen Menschen. Das ist der Unterschied zwischen Onanie und Sex: Das eine findet im subjektiven Raum der Phantasie statt, das andere entsteht zwischen dem Ich und dem Du.
Umso tragischer, wenn Glücks-Gurus und Liebesratgeber den Menschen auf sich selbst zurückwerfen. Wenn sie ihn dem Spiegelkabinett der Selbstbeschäftigung überlassen, statt ihm die Risiken einer Beziehungsdynamik ohne Ich-Kontrolle zuzumuten. Statt ihm zu sagen, dass es nur jenseits dieser Kontrolle Reibung und damit Wachstum gibt, Welt und damit Lebendigkeit.
Es gehört zur Krankheit der Zeit, dass das heute nicht mehr gelehrt, nicht mehr gelernt und so immer weniger erfahren wird. Man will glücklich werden in sicherer Distanz zu den Gefahren des Lebens. Man will sich unterhalten lassen von Filmen und Büchern, die es einem erlauben, leidenschaftliche Gefühle zu geniessen. Gefühle, die sich im Nebel des realen Lebens schnell abkühlen. Dann warten die Probleme des Beziehungsalltags, die den Genuss kaputtmachen, und man kommt zu dem Schluss, dass damit auch die Beziehung selbst kaputt sei.
Den emotionalen Safe Space verlassen
Liebe ist aber kein Gefühl. Das hat der Philosoph Martin Buber in seinem Buch «Ich und Du» (1923) in besonderer Weise herausgearbeitet. Gemäss Buber löst die Liebe zwar Gefühle aus, erhebende wie schmerzhafte. Doch diese Gefühle werden vom Menschen nur «gehabt», während die Liebe selbst darüber hinausgeht. «Gefühle wohnen im Menschen, aber der Mensch wohnt in der Liebe.» In dieser Sichtweise ist Liebe nicht ein Zustand des Ichs, sondern eine Lebensquelle, an die der Mensch angeschlossen ist.
Die Dynamik der Liebe, in der Antike schön dargestellt etwa im Bild von Amors goldenem Pfeil, löst Handlungen und Beziehungen aus, fordert vom Menschen jedoch auch einen Willensakt, ein Ja wie bei der Hochzeit. So könnte man auch mit Erich Fromm («Haben oder Sein», 1976) sagen: Gefühle lassen sich nur «haben», und es gehört zur Grösse der Liebe, dass man in ihr «sein» kann, dass sie den Menschen über sich hinaushebt.
Dieses Potenzial zur Selbstüberschreitung neu zu entdecken und der jüngeren Generation nahezubringen, wäre heute dringend nötig. Wenn Narzissmus, Bindungsangst und Depressionen zunehmen, nützen die Ratgeber eines selbstgemachten Glücks wenig. Ein erfülltes Leben gibt es nicht ohne Mitmensch und Welt, ohne das Verlassen des emotionalen Safe Space.
Die Vermittlung und die Anwendung dieser Erkenntnis wären die Grundlage für eine Kultur der Beziehungen, die sich am Sein statt am Haben orientiert. Die Grundlage für eine Freiheit, die nicht mehr als Wahlfreiheit verstanden wird, die vor dem Warenkorb des Lebens steht, sondern als Chance, sich mit seinen Fähigkeiten ins Leben zu geben, in den Dienst anderer, um gerade dadurch zu sich selbst zu finden. Auch Sexualität würde dann nicht mehr als Lustquelle erscheinen, deren Befriedigung ebenfalls zum Warenkorb des Lebens gehört, sondern als Grundenergie des Seins, die dem Leben erst Tiefe verleiht.
In einer digitalen Zeit der Dauerzerstreuung und der sozialen Kälte ist es wünschenswert, wenn viele Menschen wieder zu dieser Grundenergie zurückfinden und die Liebe neu entdecken. Ganz im Sinn des libanesisch-amerikanischen Dichters Khalil Gibran: «Die Liebe ist die Brücke zwischen dir und allem anderen.»
Giuseppe Gracia ist Schriftsteller und Kommunikationsberater.