In Grossbritannien boomen smarte Kameras, die Polizei verhaftet Verbrecher dank Echtzeit-Gesichtserkennung, und das Justizministerium will präventiv Mörder identifizieren. Kritiker sprechen von einem «dystopischen Albtraum».
In der Filiale des Sportartikelgeschäfts «Sports Direct» im Osten Londons hatten sich die Angestellten bereits an Ladendiebstähle gewöhnt. «Wir konnten wenig ausrichten, vor allem wenn die Diebe in Gruppen kamen», sagt der Filialleiter Tom, der nur seinen Vornamen nennen möchte. Als Folge der steigenden Lebenshaltungskosten haben die Ladendiebstähle markant zugenommen, die Polizei geht kleineren Delikten gar nicht mehr nach. «Oft klauten die Diebe grosse Mengen an Kleidern, die sie zu Geld machten, um Drogen oder Lebensmittel zu kaufen», erklärt Tom.
KI gegen Ladendiebe
Seit ein paar Monaten aber gewinnt das Ladenpersonal im Kampf gegen die Diebe wieder die Oberhand. Denn neuerdings sind die Überwachungskameras an der Decke des Geschäfts mit einer Gesichtserkennungs-Software der britischen Firma Facewatch ausgestattet. Betritt ein registrierter Ladendieb das Geschäft, löst dies auf Toms Handy einen Alarm aus. Er erhält eine Mitteilung und ein Bild des mutmasslichen Diebs, womit er ihn aus dem Laden weisen kann, bevor er zur Tat geschritten ist.
In der Datenbank wird registriert, wer einen Diebstahl begangen hat und dabei von einer Überwachungskamera gefilmt worden ist. Betritt die Person später ein anderes mit Facewatch ausgestattetes Geschäft im Land, löst die künstliche Intelligenz (KI) Alarm aus. Die Datensammlung wächst und wächst. Facewatch installiert nach eigenen Angaben 170 bis 200 neue Kameras pro Monat – etwa doppelt so viele wie im letzten Jahr.
Die britische Firma liess eine Interview-Anfrage zur Zuverlässigkeit der Technologie und zum Datenschutz in ihrer privaten Verbrecher-Kartei unbeantwortet. Sie erklärt aber auf ihrer Website, die Gesichter von unbescholtenen Kunden würden nach sieben Tagen gelöscht. Ehemalige Polizisten prüften, ob sich die als Diebe registrierten Personen tatsächlich gesetzwidrig verhalten hätten. Und das Programm verringere Diebstähle um mindestens 30 Prozent.
Gegen «asoziales Verhalten»
Smarte Kameras erleben in London auch im öffentlichen Raum einen Boom. Sie können die Menschen nicht nur anhand ihrer Gesichter, sondern etwa auch aufgrund ihres Ganges identifizieren. Sie erkennen Objekte wie Messer, eruieren Geräusche wie verbale Auseinandersetzungen oder Verhaltensmuster von Gruppen. Die KI wertet das Bildmaterial aus und schlägt Alarm, was den Bedarf an Personen reduziert, welche die Videos anschauen müssen.
London gilt seit den neunziger Jahren als die am stärksten überwachte Hauptstadt Europas: Die Metropole an der Themse zählt rund 68 Überwachungskameras pro 1000 Einwohner. Die nächstplatzierten Städte Berlin und Warschau weisen laut einer Zusammenstellung der irischen Firma Power Right 11 bzw. 8 Kameras pro 1000 Einwohner auf.
Ein grosser Teil der Kameras ist im Besitz der 32 Londoner Gemeinden. Diese investierten 2024 den Rekordbetrag von 34 Milliarden Pfund (36 Milliarden Franken) in die technologische Aufrüstung. KI-Kameras sollen Kriminelle abschrecken, können aber auch «asoziales Verhalten» erkennen, das die Labour-Regierung von Premierminister Keir Starmer ausmerzen will. Darunter fallen Drogenkonsum, Herumlungern, Trunkenheit oder bedrohliches Auftreten von Gruppen. Jüngst liess eine Gemeinde Kameras auf die Fenster privater Wohnungen ausrichten, weil jemand Glasflaschen auf die Strasse geworfen hatte.
Verhaftet dank Gesichtserkennung
Auch die Metropolitan Police nutzt künstliche Intelligenz. So gleicht sie bei der Aufklärung von Verbrechen Bilder verdächtiger Personen aus Überwachungskameras mit Fotos aus öffentlichen und nichtöffentlichen Datenbanken ab. Dazu kommt die Gesichtserkennung in Echtzeit: Konkret parkiert die Polizei mit Kameras ausgestattete Lieferwagen an belebten Plätzen in der Stadt. Sobald eine Person auf der Fahndungsliste ins Blickfeld der Kamera gerät, schlägt das System Alarm. Polizeibeamte halten den Passanten an, identifizieren ihn und nehmen ihn gegebenenfalls fest.
500 Verbrecher konnten 2024 dank den mobilen Kameras dingfest gemacht werden. Laut der Polizei identifiziert die künstliche Intelligenz die Verdächtigen in 98 Prozent der Fälle korrekt. Die Echtzeit-Gesichtserkennung habe das Potenzial, die Kriminalitätsbekämpfung zu revolutionieren wie einst der Einsatz von Fingerabdruck- und DNA-Beweisen. In einem Video zerstreut die Metropolitan Police grundrechtliche Vorbehalte mit dem Argument, die Lieferwagen seien gut sichtbar und niemand sei gezwungen, sich in deren Nähe zu begeben.
Jüngst wurde aber bekannt, dass die Polizei ab Juni im Südlondoner Vorort Croydon im Rahmen eines Pilotprojekts die ersten permanenten Kameras mit Echtzeit-Gesichtserkennung in Betrieb nimmt. Weitere dürften folgen. Die Bürgerrechtsbewegung Big Brother Watch kritisiert, es fehle dafür eine Rechtsgrundlage, und sie spricht von einem «dystopischen Albtraum».
Auch Carissa Veliz betrachtet die Entwicklung mit Sorge. Die Professorin für Ethik und künstliche Intelligenz an der Universität Oxford erklärt im Gespräch, dass Überwachungstechnologie eigentlich nur eingesetzt werden dürfe, wenn dies notwendig und verhältnismässig sei und wenn die Speicherung von Daten auf ein Minimum begrenzt werde.
«Doch solange keine Privatperson Klage erhebt, wird das Gesetz nicht umgesetzt», sagt Veliz. «Die britische Datenschutzbehörde ICO hat zu wenig scharfe Zähne und zu wenig Gewicht.» Eine spezifische gesetzliche Regulierung von künstlicher Intelligenz gibt es nicht. Grossbritannien verfolgt einen betont liberalen Ansatz, weshalb im Zweifelsfall als erlaubt gilt, was nicht explizit verboten ist.
Künftige Mörder vorhersagen?
Für mediale Aufregung sorgten jüngst auch Meldungen, die an den Science-Fiction-Film «Minority Report» aus dem Jahr 2002 erinnern. Wie die Bürgerrechtsgruppe Statewatch publik machte, entwickelt das britische Justizministerium anhand einer grossen Sammlung von Polizei-Daten über Kriminelle, über Zeugen und Opfer von Verbrechen ein Prognose-Programm. So könnte die KI dereinst vorhersagen, bei welchen Personen die Gefahr besteht, dass sie künftig einen Mord begehen.
Die Bürgerrechtsgruppe kritisiert, Bürger könnten aufgrund ihrer Klassenzugehörigkeit oder ihrer Hautfarbe unter Mordverdacht geraten. Das Justizministerium erklärte indes, es handle sich bloss um ein Forschungsprojekt, das in der Praxis nicht zum Einsatz komme. Ziel sei es, besser zu verstehen, welche bereits verurteilten Kriminellen Gefahr liefen, rückfällig zu werden.
Professorin Veliz betrachtet den Einsatz von KI in der Strafverfolgung generell mit Skepsis und verweist auf kulturelle Unterschiede zwischen Briten und Kontinentaleuropäern: «Grossbritannien gewichtet die Interessen der Strafverfolgungsbehörden und von datenverarbeitenden Firmen tendenziell höher als den Schutz der individuellen Privatsphäre», erklärt sie. «Daher ist hier auch die Gefahr grösser, dass KI zu einem Überwachungsstaat führt.»