Mit Mordanschlägen und Sabotage schwächt die Ukraine Russland fast seit Kriegsbeginn. Doch Moskau hat jüngst dazugelernt. Über das Internet werden gezielt Teenager angeworben.
Die ukrainischen Medien veröffentlichen in rascher Abfolge Berichte über Terroranschläge und Sabotageakte. Einer der schwersten ereignete sich am vergangenen Wochenende: In Dnipro explodierte vor einem Rekrutierungszentrum eine Bombe, die einen Mann tötete und vier weitere Personen teilweise schwer verwundete. Der Geheimdienst nahm den mutmasslichen Täter laut eigenen Angaben rasch fest.
Fast täglich ereignen sich kleinere Attacken: Vor zwei Wochen beschädigten zwei 15-Jährige in Charkiw eine Polizeiwache mit selbstgebastelten Sprengsätzen. In Kiew übergoss ein junger Mann Militärautos mit Benzin und zündete sie an. Teenager filmten für den russischen Geheimdienst zudem Stellungen der ukrainischen Luftverteidigung, als sie die Polizei auf frischer Tat ertappte.
Die Zunahme dieser Bedrohungen im Inneren ist für Kiew besorgniserregend. Bis letzten Sommer fanden solche Attacken weit hinter der Front fast nur in Russland statt, angestiftet oder durchgeführt durch den ukrainischen Militärgeheimdienst. Die Mordanschläge treffen auch hochrangige Ziele wie den russischen General Igor Kirillow am Donnerstag. Zu solchen aufsehenerregenden Aktionen sind Moskaus Agenten bis jetzt nicht fähig. Doch sie haben dazugelernt und Methoden des Gegners übernommen.
Mehr als 200 Militärautos angezündet
Sie sorgen vor allem mit Brandanschlägen für Verunsicherung im Hinterland. Von Januar bis September wurden in der Ukraine laut der Polizei die Autos von über 200 Militärangehörigen angezündet. In einem Viertel der Fälle waren Minderjährige verantwortlich. Die Zahl der sichtbar abgestellten Armee-Pick-ups in den Strassen Kiews und Charkiws hat deshalb im Vergleich zu früher merklich abgenommen.
Allein für die Hauptstadt meldete die Staatsanwaltschaft eine Verdoppelung solcher Verbrechen, zu denen die Täter laut den ukrainischen Behörden durch den russischen Geheimdienst FSB angestiftet worden waren. Bis Ende November wurden im ganzen Land 179 Personen festgenommen, wegen Brandstiftung gegen Fahrzeuge, die Bahninfrastruktur und staatliche Einrichtungen.
Dabei gibt es erhebliche Unterschiede beim Schweregrad der Taten, die sich alle gegen Militär und Staat richten. Am einen Ende des Spektrums stehen Jugendliche, die für ein paar hundert Dollar einen Pick-up abfackeln. Am anderen befinden sich professionelle Terroristen, die mit Autobomben Jagd auf Offiziere machen. In Kramatorsk wurde im Oktober der Leiter der Ausbildungseinheit in der Stadt schwer verletzt. Es gibt auch immer wieder Gerüchte über Morde an Armeeangehörigen.
Die Medienberichte, die meist im Zusammenhang mit der Verhaftung von Einzeltätern oder ganzen Zellen erscheinen, erwähnen nur in Ausnahmefällen die physische Anwesenheit von Angehörigen russischer Geheimdienste. Diese stammen offenbar meist aus den besetzten Gebieten des Donbass. Auf beiden Seiten der Front sind zwar regelmässig Sabotagetrupps aktiv, auch hinter den feindlichen Linien. In den grossen Städten scheinen Kommunikation und Organisation jedoch vorwiegend über Handys und Messenger-Dienste zu funktionieren.
Eine entscheidende Rolle spielt die nur schwer zu überwachende App Telegram. Dort findet die Anwerbung statt, oft durch ein gezieltes Schüren von Unzufriedenheit und das Versprechen von Geld. Jugendliche erhalten darüber auch Instruktionen für den Bau einfacher Bomben. Ein Bericht aus Charkiw erwähnte jüngst die Verwendung von sogenannten Quest-Computerspielen: Darin erhalten die «Spieler» den Auftrag, an gewissen Orten Missionen zu erfüllen, etwa, indem sie Militäranlagen fotografieren.
Jugendliche Naivität und Sympathien für Russland
Ob die ukrainischen «Terroristen» und Saboteure immer genau wissen, wofür sie sich einspannen lassen, ist deshalb zweifelhaft. Die Russen dürften die Naivität einiger Teenager ausnutzen. Auch jugendliche Rebellion spielt wohl eine Rolle. Ein Teil der Täter handelt aber aus Überzeugung, zumal Moskau in Städten wie Charkiw auch gezielt prorussische Propaganda verbreitet. Angesichts des schwierigen Alltags und des für die Ukraine schlecht verlaufenden Krieges stösst diese in gewissen Bevölkerungskreisen auf Resonanz. Dazu kommt, dass die Mobilisierung neuer Soldaten höchst unbeliebt ist. Das macht Rekrutierungszentren zu naheliegenden Zielen.
Die Reaktion Kiews auf die zunehmende Zahl von Sabotageakten wirkte über Monate zögerlich und konzentrierte sich auf Repression. Gebetsmühlenartig wiederholten die Behörden, dass jeder dieser Angriffe die Gesellschaft zu spalten und zu schwächen drohe. Inzwischen scheinen sie verstanden zu haben, dass es zumindest gegenüber den Jugendlichen differenziertere Mittel braucht. Jüngst stellte der Geheimdienst SBU deshalb mit erheblichem öffentlichem Aufwand einen neuen Chatbot vor, der übersetzt «Lass die FSBler auffliegen» heisst.
Dort können sich all jene anonym melden, die mit einem Anwerbeversuch des russischen Geheimdiensts konfrontiert sind. Der Chatbot spricht Jugendliche direkt an, in der Du-Form, und fordert sie auf, nicht zuzulassen, dass die Verteidigung des Landes geschwächt wird. «Wenn du solche Aufträge ausführst, erhältst du nicht Geld, sondern eine echte Gefängnisstrafe.» Die gesetzlichen Regelungen sind hart: So können bereits 14-Jährige für Terrorismus und Sabotage bis zu 10 Jahre in Haft kommen.
Wie konsequent diese Strafen durchgesetzt werden, ist unklar. Russland hingegen geht auch gegen Teenager hart vor: Laut der Zeitung «Nowaja Gaseta» wurden dieses Jahr 80 Prozent der Jugendlichen, die Militäreinrichtungen angegriffen hatten, auf Grundlage der Terrorismus-Artikel juristisch verfolgt und teilweise bereits abgeurteilt. Ihnen drohen bis zu 20 Jahre Gefängnis.