London unternimmt eine Charmeoffensive, um die Beziehungen mit Brüssel zu intensivieren. Die EU ist gesprächsbereit, will sich aber nicht übertölpeln lassen.
Die Welt ist in Aufruhr. Der Ukraine-Krieg dauert an, die geopolitischen Auswirkungen des Machtwechsels in Syrien sind nicht absehbar, und über die künftige Politik des neuen amerikanischen Präsidenten Donald Trump kann nur spekuliert werden. In diesem explosiven Umfeld stärken befreundete Staaten ihre strategischen Partnerschaften – selbst wenn sie unlängst auf Distanz zueinander gegangen sind.
In besonderem Ausmass ist dies derzeit zwischen dem Vereinigten Königreich und der EU zu beobachten. Der britische Premierminister Keir Starmer hat zwar stets klargemacht, dass der 2020 vollzogene Brexit – obwohl er einer seiner grössten Gegner war – unumkehrbar ist. Aber der Labour-Mann trat sein Amt im Juli mit dem Versprechen an, für einen Neustart der Beziehungen zum wichtigsten Handelspartner zu sorgen. «Brexit-Reset» heisst das Zauberwort.
Dieses Tauwetter ist nun im Gang, die Auswirkungen sind in Brüssel auch mitten im Winter unübersehbar. London hat klare Wünsche und darum eine Charmeoffensive lanciert. Die EU ihrerseits gibt sich angesichts der geopolitischen Herausforderungen gerne dialogbereit, will sich aber nicht über den Tisch ziehen lassen und schreckt auch vor juristischen Konflikten nicht zurück.
Starmer darf zum EU-Gipfel
Mit Rachel Reeves kam letzte Woche zum ersten Mal seit dem Brexit eine britische Finanzministerin mit den europäischen Kollegen zusammen. Er hoffe, dass dies «der erste von vielen solchen Dialogen» sei, sagte Paschal Donohoe, der irische Präsident der sogenannten Euro-Gruppe, im Anschluss.
Tags darauf schloss Grossbritannien eine Migrationsvereinbarung mit Frankreich, Deutschland, Belgien und den Niederlanden ab, dank der man Schlepperbanden effektiver bekämpfen und deren Hintermänner schneller vor Gericht bringen will.
Nochmals zwei Tage später reiste der neue EU-Rats-Präsident Antonio Costa – es ist eine seiner ersten Amtshandlungen – nach London und lud Starmer kurzerhand zum informellen EU-Gipfel von Anfang Februar ein. Der 62-Jährige liess sich nicht zweimal bitten und sagte freudig zu.
Kurz: Der Austausch hat merklich zugenommen – und dürfte bald noch intensiver werden. Die Europaminister der EU-Staaten berieten über die Beziehungen mit London am Dienstag. Ungarns Vertreter, Janos Boka, sagte im Nachgang, dass es unter den EU-Staaten «viel Offenheit» für eine Stärkung der Beziehungen gebe. Am Gipfel vom Donnerstag wollen sich auch die 27 Staats- und Regierungschefs über das Dossier beugen.
Die roten Linien der EU
Auch über einen Abbau der Brexit-Handelsbeschränkungen dürften sie dabei sprechen, den sich Grossbritannien etwa beim Export von tierischen Produkten oder bei der Anerkennung von Berufsabschlüssen wünscht. Im neuen Jahr soll es dazu formelle Verhandlungen geben. Doch laut einem internen EU-Papier, das wohl gezielt an die britische Presse gespielt wurde, will die EU unbedingt «Rosinenpickerei» verhindern. Sie zieht daher klare rote Linien.
So verlangt Brüssel gemäss dem Dokument, über das unter anderem die «Times» berichtete, dass London sich rasch zu einer Verlängerung der Fischerei-Bestimmungen im Brexit-Freihandelsvertrag bekennt. Diese ermöglichen Flotten aus EU-Staaten derzeit das Fischen in der Nähe der britischen Küste, laufen aber im Sommer 2026 aus. Eine Einigung in dieser Frage ist für die EU eine Vorbedingung, um vertieft über einen «Reset» zu sprechen. Auch will die EU Zugeständnisse bei einem Programm zur Jugendmobilität. Junge Menschen sollen im jeweils anderen Raum bis zu drei Jahre studieren oder arbeiten dürfen.
Nicht zuletzt fordert die EU, dass der Europäische Gerichtshof (EuGH) künftig eine gewichtigere Rolle spielt. Ein Abkommen über Exporte von tierischen Lebensmitteln sei nur dann möglich, wenn die Briten das betreffende EU-Recht übernehmen und Urteile des EuGH in diesem Bereich künftig respektieren würden.
Der Forderungskatalog aus Brüssel ist für London politisch heikel und sorgt unter britischen Konservativen bereits jetzt für Aufruhr. Die Diskussion rund um die «fremden Richter» erinnert an eines der umstrittensten Elemente der Verhandlungen zwischen der Schweiz und der EU, die in diesen Tagen abgeschlossen werden sollen.
Briten könnten beim Verteidigungsfonds mitmachen
Bewegung zeichnet sich hingegen im Verteidigungsbereich ab, in dem Trump von den Europäern mehr Investitionen verlangt. Grossbritannien hat der EU vorgeschlagen, ein umfassendes Sicherheitsabkommen auszuhandeln. Die EU-Kommission will ihrerseits bald ein Weissbuch mit Ideen vorlegen, um die Investitionen in die Verteidigung massiv zu erhöhen. In Diskussion ist gemäss der «Financial Times» ein aus nationalen Anleihen gespeister Fonds im Umfang von 500 Milliarden Euro, der gemeinsame Verteidigungs- und Rüstungsprojekte finanzieren würde.
Dank mehr Kooperation bei der Beschaffung sollen teure nationale Doppelspurigkeiten verringert werden. Gemäss den Plänen könnte sich auch Grossbritannien als Drittstaat beteiligen, obwohl das Land nicht Teil des Binnenmarkt ist und vom bestehenden Verteidigungsfonds ausgeschlossen bleibt. Grossbritannien gehört zu den wichtigsten europäischen Standorten der Rüstungsindustrie.
Mike Martin, der Vorsteher des Verteidigungsausschusses im britischen Unterhaus, befürchtet, dass ein womöglich von Trump propagierter Friedensplan für die Ukraine den Interessen Europas zuwiderlaufe. «Die Annexion von Territorium und die erzwungene Neutralität eines souveränen europäischen Landes sind für Europa schwer zu akzeptieren», erklärt der Liberaldemokrat im Gespräch mit Journalisten in London.
«Ein Waffenstillstand und die Stationierung westlicher Truppen in einer Rumpf-Ukraine wären ebenfalls problematisch, zumal die Europäer ohne amerikanische Beteiligung die Truppen stellen müssten und Zweifel an der Nato-Beistandspflicht aufkommen könnten.» Auch vor diesem Hintergrund geht Martin davon aus, dass Grossbritannien und die EU-Staaten in den nächsten Jahren im Verteidigungsbereich ähnliche Interessen haben und enger zusammenrücken werden.
Bevölkerung wünscht Annäherung
Eine unmittelbar nach der amerikanischen Präsidentschaftswahl durchgeführte Umfrage der Denkfabrik European Council on Foreign Relations deutet darauf hin, dass die Bevölkerung in den fünf grössten EU-Ländern und in Grossbritannien ein solches Zusammenrücken begrüssen würde.
So sprechen sich in Deutschland, Frankreich, Polen, Spanien und Italien zwischen 54 und 41 Prozent der Befragten dafür aus, Grossbritannien sektoriellen Zugang zum Binnenmarkt zu gewähren, um einer engeren Sicherheitskooperation den Weg zu ebnen. Das deutet auf eine weit konziliantere Haltung hin als jene, die in Brüssel vertreten wird.
Auch die britische Bevölkerung steht nach der Wahl Trumps einer Annäherung an die EU positiver gegenüber als zuvor. So bestätigt die Umfrage nicht nur, dass eine Mehrheit der britischen Bevölkerung den Brexit heute für einen Fehler hält. Vielmehr sind 50 Prozent der Befragten der Meinung, ihr Land solle den Beziehungen zu den europäischen Nachbarn Priorität beimessen, während bloss 17 Prozent die USA bevorzugen wollen.
Doch Starmer agiert vorsichtig, weil er der konservativen Opposition und der rechtsnationalen Reform-Partei möglichst wenig Angriffsfläche bieten will. Findet das Land nicht rasch aus der wirtschaftlichen Stagnation heraus, könnten aber innerhalb von Labour jene Stimmen Auftrieb erhalten, die sich von einer Annäherung an den EU-Markt einen dringend benötigten Wachstumsschub erhoffen.








