Im Nordwesten Syriens kommt es zum ersten Mal seit Jahren wieder zu heftigen Kämpfen. Eine Rebellen-Allianz greift nach der Kontrolle über Aleppo. Um sie zu stoppen, greift Russland ein – ein langjähriger Verbündeter Syriens.
(dpa) Um den Vormarsch von Rebellen in Aleppo zu verhindern, haben russische Kampfflugzeuge laut Einschätzung von Aktivisten in der Nacht auf Samstag zum ersten Mal seit 2016 wieder Ziele in der syrischen Millionenstadt angegriffen. Syriens Verbündeter Russland habe ein Viertel im Westen der Stadt angegriffen, meldete die Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte.
Die Rebellen hätten mittlerweile grosse Teile Aleppos unter ihre Kontrolle gebracht. Sie kontrollierten dort nun auch Regierungsgebäude und Gefängnisse, berichtete die Beobachtungsstelle. Die Organisation mit Sitz in Grossbritannien bezieht ihre Informationen von einem Netz aus Informanten vor Ort.
Eine Allianz von Aufständischen unter der Führung der Islamistenorganisation Haiat Tahrir al-Scham (HTS) hatte in dieser Woche bei einer Offensive im Nordwesten des Landes überraschend grosse Gebietsgewinne erzielt. Vor dem Eindringen in Aleppo hatten die Rebellen bereits Dutzende Orte in der Umgebung von Idlib und westlich von Aleppo unter ihr Kontrolle gebracht.
Gefechtslärm und Explosionen
Am Freitag erreichten die Gefechte den Stadtrand der Millionenmetropole Aleppo. Laut Augenzeugen waren in der Stadt Gefechtslärm und Explosionen zu hören. Im westlichen Teil der Stadt wurden Rebellen auf Fahrzeugen beobachtet. Die syrische Staatsagentur Sana meldete, es habe Festnahmen von Terroristen gegeben, die sich in Aleppo gefilmt hätten, um den Eindruck zu erwecken, sie seien in Kontrolle.
Videos, die auf sozialen Netzwerken kursierten, und angeblich Rebellen in verschiedenen Teilen der Stadt und öffentlichen Gebäuden zeigten, zeichneten jedoch ein anderes Bild. Nach Augenzeugenberichten verliessen die Regierungstruppen teilweise ihre Stellungen.
Laut Berichten zieht die Regierung Truppen im Osten der Stadt für einen Gegenschlag zusammen. Sollte Aleppo dauerhaft an die Aufständischen fallen, wäre das ein herber Schlag für Präsident Bashar al-Asad, der seine Macht mit Hilfe russischer und iranischer Unterstützung in den vergangenen Jahren wieder festigen konnte.
HTS-Anführer Abu Mohammed al-Dsholani wies seine Kämpfer einer Mitteilung zufolge an, keine Zerstörung in der Stadt anzurichten und Zivilisten keinen Schaden zuzufügen. Nach Angaben eines dpa-Reporters vor Ort sind bereits Tausende Menschen auf der Flucht in ländliche Gebiete oder andere Städte. Die Rebellenallianz verhängte nach eigenen Angaben eine Ausgangssperre in der Stadt bis 8 Uhr morgens am Samstag.
Tausende Menschen bereits auf der Flucht
Die Offensive der Rebellen begann am Mittwoch. Die grossen Gebietsgewinne stellen eine dramatische Entwicklung dar in dem seit 2011 andauernden Bürgerkrieg – in dem sich die Fronten jüngst kaum verändert hatten. Beobachter gehen davon aus, dass die Offensive seit Monaten von den Rebellen geplant worden war. Schon in den vorigen Wochen hatte sich die Lage immer weiter zugespitzt.
Bereits einen Tag nach Beginn der Offensive gelang es den Rebellengruppen, ein Dutzend Dörfer in der Region Aleppo unter ihre Kontrolle zu bringen. Aus Kreisen der Rebellen hiess es am Freitag, Kämpfer seien vom Süden und vom Westen nach Aleppo vorgerückt und hätten bisher mehr als 50 Orte in der Umgebung unter ihre Kontrolle gebracht. Darunter war nach Angaben der Syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte auch die Ortschaft Sarakeb, die entscheidend für die Kontrolle der Verbindungsroute zwischen der Hauptstadt Damaskus und Aleppo ist.
Das syrische Verteidigungsministerium gab an, die Streitkräfte der Regierung seien mit massiven Angriffen im Umland der Städte Aleppo und Idlib konfrontiert. Die syrische Armee greift die Rebellen mit Unterstützung russischer Kampfjets an.
Seit Mittwoch wurden nach Angaben der Menschenrechtsaktivisten bereits mindestens 300 Personen getötet. Unter ihnen seien mindestens 28 Zivilisten. Nach Angaben der Vereinten Nationen sind zudem rund 14 000 Menschen in der Umgebung von Idlib und westlich von Aleppo vertrieben worden.
Viele Bewohner flohen laut Augenzeugen aus den betroffenen Gebieten aus Angst vor einer Eskalation. «Die Leute haben Angst. Ich packe meine Sachen und meine Familie und fahre in Richtung Damaskus», sagte ein Anwohner im Westen Aleppos der DPA. Die Lage verschlechtere sich insbesondere für die Zivilbevölkerung, sagte der stellvertretende regionale Uno-Koordinator für humanitäre Hilfe in Syrien, David Carden. «Wir erhalten Berichte über Kinder mit mehreren Verletzungen durch Schrapnells».
Erinnerung an die erbitterte Schlacht um Aleppo
Aleppo war in den ersten Jahren des syrischen Bürgerkriegs stark umkämpft und wurde schwer verwüstet. Damals wurden die Aufständischen vom syrischen Militär und seinen Verbündeten gewaltsam aus dem östlichen Teil der Stadt vertrieben. Die Schlacht um Aleppo galt als eine der schlimmsten in dem seit 2011 andauernden Bürgerkrieg in Syrien. Idlib ist seit Jahren in der Hand der Aufständischen.
Der Bürgerkrieg in Syrien hat das Land völlig gespalten. Präsident Bashar al-Asad geriet zeitweise schwer unter Druck, er kontrolliert mithilfe seiner Verbündeten Russland und Iran inzwischen aber wieder zwei Drittel des Landes. Der Nordwesten ist teilweise unter der Kontrolle von Oppositionskräften. Eine politische Lösung für den Konflikt ist nicht in Sicht.