Die Walliserin gewann im Dezember erstmals ein Weltcup-Rennen. Auf ihrem Weg zum Erfolg überwand die Skirennfahrerin Viruserkrankungen, eine Depression, einen Kreuzbandriss und Materialprobleme.
Wenn im Frühling der Ski-Weltcup zu Ende geht, beginnt jeweils die Hochsaison im Mountainbiken, Camille Rasts zweite Leidenschaft. Sommer für Sommer reiste sie in den vergangenen Jahren am Wochenende für Enduro-Rennen nach Italien, Slowenien oder Österreich. Sagte ihrem Konditionstrainer, dass sie montags vielleicht nicht ganz so fit sei im Training, denn die Wettkämpfe forderten sie auch mental.
Im Sommer 2023 aber schmerzten Rasts Handgelenke. Sie sah das als Zeichen, dass ihr Sommerprogramm zu anstrengend sei, wenn sie im Skifahren an die Weltspitze wollte. So fuhr sie in diesem Jahr nur noch zum Spass Mountainbike und erholte sich öfter. «Im Konditionstraining konnten wir viel präziser arbeiten», sagt die 25-Jährige im Gespräch. «Es stand im Zentrum, alles andere kam danach.»
Nun ist Camille Rast Weltcup-Siegerin, sie triumphierte im Slalom in Killington und stand auch im Riesenslalom auf dem Podest. Die Abstriche beim Mountainbiken sind für Rast einer von vielen Gründen für den gegenwärtigen Erfolg. Eines von vielen Details, an denen sie in den vergangenen fünf Jahren im Stillen gearbeitet hat. In den Jahren nach der dunkelsten Zeit ihres Lebens also: 2017 war sie am Pfeifferschen Drüsenfieber erkrankt, die anhaltende Erschöpfung führte zu einer Depression. Damals galt sie als grosses Schweizer Talent, weil sie schon in ihrem fünften Weltcup-Rennen Neunte geworden war.
Doch Rast musste auch nach dieser Zäsur einige Umwege gehen, um an die Spitze zu gelangen. Und zunächst ihre Persönlichkeit mit dem Profisport in Einklang bringen. «Das grösste Hindernis, das ich überwinden muss, bin ich selbst», sagt Rast in der neuen SRF-Dokumentation «Der Ski-Zirkus», die neben ihr im vergangenen Winter auch Loïc Meillard und Delia Durrer begleitet hat.
In jenem Winter ging bei der Walliserin endlich vieles auf, Rast verpasste das Podest mehrmals nur knapp. Sie ist ein Wettkampftier, kann im Rennen ein, zwei Gänge hochschalten im Vergleich zum Training. Doch im vergangenen Winter fehlte ihr noch die Lockerheit. Rast dachte beim Fahren zu viel nach und zweifelte, ob sie gut genug sei. «Ich wollte zu viel kontrollieren, wollte zeigen, dass ich es so gut machen kann wie im Training», sagt Rast. Ihr Trainer Denis Wicki sagte, sie dürfe nicht vom Sieg besessen sein.
Im Training muss Platz sein für Rasts wilde, draufgängerische Seite
Nun kann Rast mit ihrem Ehrgeiz besser umgehen. Das Umschalten in den Wettkampfmodus gelingt ihr wieder perfekt, «das macht wohl die Erfahrung aus». Wenn sie im Ziel nichts mehr vom Rennen weiss, war es gut.
Trotzdem bleibt Kontrolle für Camille Rast ein wichtiges Thema. Sie möchte in die Planung mit einbezogen werden, würde am liebsten viel länger im Voraus planen oder sofort eine Lösung finden, wenn es ein Problem gibt. «Sie ist keine 08/15-Athletin, die nur ihr Pensum herunterspult», sagt ihr Gruppentrainer Heini Pfitscher, «sondern ist sehr ausgereift, intelligent und weiss, was sie benötigt.» Dabei muss auch Platz für ihre wilde, draufgängerische Seite sein. Sie geniesst die Abwechslung, das Springen, das freie Fahren.
Im Jahr 2022 erzählte Camille Rast im Magazin «Sportlerin», wie ihr diese lebensfrohe, leichtfüssige Seite abhandengekommen war. 2017 wurde bei ihr das Pfeiffersche Drüsenfieber diagnostiziert. Sie trainierte trotzdem weiter, doch sie war erschöpft, nicht bloss körperlich, sondern auch seelisch. Die Freude am Skifahren war weg, Rast fühlte sich innerlich wie tot, weinte jeden Tag. Erst im Februar 2018 brach sie die Saison ab, begab sich in psychologische Behandlung und fand im Laufe der folgenden Monate schrittweise ihre Lebensfreude wieder.
Für Rast ist diese schwierige Zeit heute so weit weg, dass sie nicht mehr darüber sprechen mag. Bereut sie es, so offen über ihre Geschichte gesprochen zu haben? Rast ist zwiegespalten. Vermutlich habe niemand Freude daran, immer auf sein 18-jähriges Ich angesprochen zu werden. «Anderseits hoffe ich, dass es denen Kraft gibt, die in der gleichen Situation sind.»
Ob im Staff eine Sensibilisierung stattgefunden habe, kann Rast nur an ihrem eigenen sportlichen Umfeld beurteilen. Sie lässt sich zu nichts mehr drängen, hört viel besser auf ihren Körper. Immer wieder passt sie ihr Training an, auch an ihren Menstruationszyklus. Fährt sie ein Rennen in einer ungünstigen Phase, gibt es am Renntag einen Power-Nap mehr. Ihr Konditions- und ihr Skitrainer tauschen sich über ihren aktuellen Zustand aus und wissen so, wie sie mit ihr umzugehen haben. «Sie verstehen mich und vertrauen mir, dafür bin ich dankbar.»
Nach dem Kreuzbandriss wartet sie mit der Rückkehr länger als empfohlen
Dass sie konsequent bereit ist, auf sich selbst zu hören, bewies Rast bereits 2019. Im Frühling riss ihr Kreuzband. Die Reha lief problemlos, und nach sechs Monaten schickte der Arzt sie mit den Worten aus dem Zimmer: «Los, geh Ski fahren!» Doch für Rast stimmte es noch nicht, sie arbeitete weiter an ihrer Fitness. Erst nach acht Monaten schnallte sie sich an einem Tag mit einem halben Meter Pulverschnee die Ski an und schickte das Video ihrem Arzt. Er schrieb zurück: «Zum Glück hast du das nicht nach sechs Monaten schon gemacht.» Da wusste sie, dass sie sich auf ihr Gefühl verlassen kann.
Im Winter 2022/23 wechselte Rast die Skimarke; es sollte ihre nächste Herausforderung werden. Ein Leben lang war sie mit Head-Ski gefahren, wechselte dann zu Salomon – und wurde von der Rennfahrerin zur Testfahrerin. Rast liebt es, zu tüfteln. Als sie von ihren Eltern zum 18. Geburtstag einen alten Van bekam, baute sie diesen in Handarbeit mit ihrem Vater um, jahrelang war sie mit dem Bus an den Enduro-Rennen unterwegs. Alle Mechanikerarbeiten an den Bikes kann Rast selbst durchführen – sie brachte sich das Wissen mithilfe von Kursen und Youtube-Videos bei.
Nun tauchte sie bei Salomon in eine neue Welt ein. Rast war neugierig, sie probierte sich durch die Optionen. «An jedem zweiten Tag sagte ich im Training: Oh, ich habe etwas Neues!» Sie lernte zwar viel über das Material und darüber, was bei ihr funktioniert, verlor sich aber in den zahllosen Möglichkeiten. Nach einer schwierigen Saison wechselte sie zurück zu Head. «Dort musste ich zuerst mein Skifahren wiederfinden.»
Camille Rast hat körperliche und psychische Krankheiten überwunden, Verletzungen, Materialprobleme und einen Ehrgeiz, der sich manchmal gegen sie wendet. «Es war ein langer Prozess, bis ich da war, wo ich jetzt bin», sagt sie. Während ihrer Depression ergaben die Opfer, die sie für den Skisport erbringen musste, keinen Sinn mehr für sie.
Nun ist Rast stolz darauf, was sie alles gemeistert hat. Die Lust am Skifahren ist zurück, ihr Potenzial entfesselt. «Es ist noch so viel mehr möglich für mich.»