Die Anzeichen sind deutlich: China hat nicht nur mehr, sondern auch neuartige Atomwaffen. Möglicherweise wird gar ein Atomtest vorbereitet. Über die Beweggründe schweigt sich Peking aus.
Atomwaffen unterliegen in allen neun Staaten, die sie besitzen, strenger Geheimhaltung. Verschiedene von ihnen geben nicht einmal bekannt, wie viele Sprengköpfe sie haben. Etwas Licht in die Situation zu bringen versucht das «Bulletin of the Atomic Scientist». In seiner neusten Ausgabe heisst es: «Die Modernisierung von Chinas Atomwaffenarsenal verläuft in den letzten Jahren sowohl zügiger als auch breiter.» Die Autoren gehen davon aus, dass China über eines der am schnellsten wachsenden Atomwaffenarsenale verfügt.
Chinas Geheimnistuerei führt zu Spekulationen
Wie viele Atomsprengköpfe Peking gegenwärtig besitzt, ist unklar. Lange lag die Schätzung konstant bei etwa 200, noch vor vier Jahren nannte das amerikanische Verteidigungsministerium diese Zahl. In seinem Jahrbuch 2023 geht das Stockholm International Peace Research Institute (SIPRI) von rund 410 Sprengköpfen aus, das «Bulletin» spricht derzeit von rund 500.
Das Pentagon erwartet, dass die Anzahl bis 2030 1000 erreichen und danach weiter ansteigen dürfte. Zum Vergleich: Russland und die USA haben gegenwärtig je etwa 1700 sofort einsatzbereite Atomsprengköpfe. Dazu kommen bei beiden mehrere tausend eingelagerte Sprengköpfe.
Peking hat nie eine Erklärung abgegeben, warum es sein Arsenal ausbaut und wie weit es gehen will. Diese Geheimnistuerei führe zu viel Spekulation, sagt Hans Kristensen, der bei der Federation of American Scientists das Nuclear Information Project leitet: «Das führt dazu, dass viele aussenstehende Beobachter immer vom schlechtesten Szenario ausgehen.»
Kristensen nennt ein Beispiel, welches das Rätselraten illustriert. Gut mit Satellitenbildern dokumentiert ist, dass China in den letzten Jahren drei grosse Felder mit rund 300 Silos für Interkontinentalraketen gebaut hat. «Doch wir wissen nicht, wie viele dieser Silos auch mit Raketen bestückt sind», sagt Kristensen, «und wir wissen ebenso wenig, ob die Raketen mit einem oder mehreren Sprengköpfen ausgerüstet sind.»
Satellitenbilder zeigen, wie chinesische Truppen Interkontinentalraketen in einzelne der neuen Silos einführen. Doch es könnte sich dabei auch nur um Übungen handeln. Fremde Geheimdienste hätten wohl ein ziemlich gutes Bild davon, wie viele Silos aktiv seien, meint Kristensen. Doch diese Information bleibt geheim.
China verfügt über Systeme zu Land, zu Wasser und in der Luft
Offensichtlich ist jedoch, dass China die Mittel weiterentwickelt, wie die Atomsprengköpfe abgefeuert werden. Fachleute sprechen von «delivery vehicles»; Chinas bevorzugte Variante waren lange Zeit ballistische Raketen unterschiedlicher Reichweite. Neben den Interkontinentalraketen in den Silos, welche amerikanische Grossstädte erreichen können, hat China auch Raketen auf Fahrzeugen. Diese lassen sich einfach verschieben und sind so für den Gegner schwieriger zu entdecken und zu zerstören.
Mittlerweile verfügt China nach Ansicht westlicher Experten über die sogenannte nukleare Triade, also land-, see- und luftgestützte Systeme. Sechs atomgetriebene U-Boote der «Jin»-Klasse können jeweils zwölf Raketen mit Atomsprengköpfen mit sich führen. Mindestens ein U-Boot davon ist jeweils in den Tiefen der Ozeane versteckt. Damit habe China erstmals eine glaubwürdige seegestützte Abschreckung, schreibt das Pentagon.
Und seit 2020 hat die Luftwaffe der Volksbefreiungsarmee den Langstreckenbomber H-6N im Einsatz, der in der Luft betankt werden kann. Dieser kann Atombomben abwerfen oder auch (möglicherweise atomar bestückte) Raketen abfeuern.
Peking hält sein Atomarsenal für verletzlich
Was treibt Peking an, sein Arsenal so stark auszubauen, nachdem dieses über Jahrzehnte konstant gewesen ist? Es war gross genug, um einen nuklearen Angriff überstehen und zurückschlagen zu können. Weil er mit Vergeltung rechnen müsste – so die Überlegung –, würde ein Gegner gar nicht erst wagen, China mit Atomwaffen anzugreifen. Selber versprach man, nie als Erster zu Atomwaffen zu greifen.
Die Autoren einer Studie des Institute for National Strategic Studies, das dem US-Militär nahesteht, versuchten vor einem Jahr zu ergründen, was Chinas Expansion antreibt. Sie verglichen die konkret sichtbaren Schritte Pekings mit verschiedenen Thesen.
Ihrer Ansicht nach verfolgt China drei Ziele:
- Die Fähigkeit sichern, im Angriffsfall zurückschlagen zu können.
- Die Abschreckung noch zu verstärken, um so im Falle eines konventionellen Krieges – etwa um Taiwan – mehr Handlungsspielraum zu haben.
- Daneben spielt das Prestigedenken eine Rolle, als Grossmacht über eine Atomstreitkraft vergleichbar mit den USA und Russland zu verfügen.
Kristensen sieht das ähnlich: «Wer eine globale Militärmacht sein will, braucht auch ein bedeutendes Nukleararsenal – das spielt sicher mit hinein.» Zuoberst stehe für Peking aber das Bedürfnis, die Fähigkeit zum Gegenschlag und damit die Abschreckung zu erhalten. «Die chinesische Führung hält ihr Nukleararsenal zweifellos für sehr verletzlich.»
Die Golfkriege haben gezeigt, dass konventionelle Waffen über lange Distanzen zielgenau auch stark befestigte Ziele zerstören könnten. Dazu kommt, dass die USA ihre Raketenabwehr ausgebaut haben. Zusammen hat dies die kommunistische Führung offenbar zum Schluss kommen lassen, dass sie ihr Arsenal ausbauen muss, um nicht ins Hintertreffen zu geraten.
Kristensen basiert seine Argumentation darauf, dass China in den letzten Jahren mit Systemen experimentiert hat, welche die Raketenabwehr austricksen sollen. So hat es einen Hyperschallgleiter getestet, der mit sehr hoher Geschwindigkeit auf einer unberechenbaren Flugbahn fliegt. Und ein sogenanntes Fractional Orbital Bombardment System, wo die Rakete in eine Umlaufbahn um die Erde einschwenkt und so viel grössere Distanzen zurücklegen kann.
Schreitet Peking zu einem Atomtest?
Zusätzlich gibt es Anzeichen, dass China einen Atomtest planen könnte. Darauf deuten laut der «New York Times» Arbeiten auf dem Testgelände Lop Nur in Xinjiang hin. China hat bisher 45 Atomtests durchgeführt, den letzten 1996, bevor ein globales Moratorium in Kraft trat. Dieses besteht seit 1998, und China hält sich wie alle anderen Atomstaaten ausser Nordkorea daran.
Aber die Volksbefreiungsarmee hat weniger Daten für Computersimulationen als die USA, Russland oder auch Frankreich. China wolle kleinere, kompaktere Atomsprengköpfe entwickeln, vermutet Kristensen. Diese kämen auf neuen Raketen zum Einsatz – etwa jenen, die von U-Booten aus abgefeuert werden – oder um grosse Interkontinentalraketen mit mehreren Sprengköpfen zu bestücken. Dazu brauche es vielleicht Tests. Und, so fügt Kristensen an, richtig geplant und durchgeführt, sei es durchaus möglich, dass die Tests unentdeckt blieben. Damit kann Peking seine Geheimnistuerei weiter betreiben.