Langsam zieht Peking die Schlinge um die Insel zu. Drei Szenarien, wie China Taiwan militärisch in die Zange nehmen kann.
Chinas mächtiger Führer Xi Jinping lässt keinen Zweifel: Taiwan gehört ihm. Er baut seine Streitkräfte seit Jahren aus – seine Kriegsmarine hat mittlerweile mehr Kriegsschiffe als die US-Navy. Die Raketenstreitkräfte sind in der Lage, Ziele, die Tausende Kilometer von China entfernt sind, zu treffen. Der Auftrag ist klar: Die Volksbefreiungsarmee soll fähig sein, die Insel Taiwan mit Waffengewalt einzunehmen. Und verhindern, dass die USA eingreifen können.
Trotz allen Vorbereitungen: Die meisten Experten zweifeln daran, dass China bereits zu einer Invasion Taiwans fähig ist. Die amphibische Landung über den an der engsten Stelle 130 Kilometer breiten Seeweg wäre hochkomplex. See und Wetter sind unberechenbar. Die Verteidiger sind im Vorteil.
Doch China hat eine Reihe von anderen Möglichkeiten, militärische Mittel in unterschiedlichem Mass zu verwenden. Sie liegen alle in der sogenannten «grey zone». Darunter versteht man Massnahmen, die zwar militärische Mittel umfassen, die aber unterhalb der Schwelle des offenen Konflikts bleiben.
Es gibt drei mögliche Szenarien, in steigender Intensität, wie das passieren könnte:
- Das langsame Zermürben: China bedrängt Taiwan ständig und schüchtert die Bevölkerung ein.
- Die polizeiliche Quarantäne: China demonstriert seine Kontrolle über Taiwan und schädigt seine Wirtschaft.
- Die militärische Blockade: China schneidet Taiwan von der Aussenwelt ab und bringt das Leben auf der Insel zum Erliegen.
Das langsame Zermürben
Chinas Salamitaktik wird bei den Flugbewegungen in der taiwanischen Luftüberwachungszone (kurz Adiz für Air Defence Identification Zone) besonders deutlich: Vor drei Jahren fanden die Flüge noch grösstenteils am Rand der Zone statt, jetzt fliegen chinesische Kampfjets fast täglich über die Mittellinie. Von dort wären es nur wenige Minuten Flugzeit bis an die dichtbesiedelte Westküste Taiwans. Der taiwanischen Flugabwehr bleibt wenig Zeit, zu reagieren.
Von Zeit zu Zeit fliegen grössere Verbände in Richtung Taiwan. Die höchste Zahl der von Taiwan entdeckten chinesischen Flugzeuge an einem Tag ist 111. Für die taiwanische Seite ist es schwierig zu wissen, ob es sich um eine weitere Provokation oder um einen wirklichen Angriff handelt.
Chinas Überwachungsflugzeuge und Drohnen umrunden auch die Insel – und zeigen so, dass auch die Ostküste Taiwans in ihrer Reichweite liegt. Mit mittlerweile zwei einsatzfähigen Flugzeugträgern kann China auch Kampfjets auf der pazifischen Seite Taiwans starten.
So soll Taiwans Bevölkerung der Eindruck vermittelt werden, dass sie eingekreist ist. Die taiwanischen Streitkräfte können wenig gegen die chinesische Übermacht tun und erscheinen schwach. Chinas Botschaft an die Taiwanerinnen und Taiwaner: «Ihr habt keine Chance. Ergebt euch besser.»
Die polizeiliche Quarantäne
Indem die Marine nur unterstützend eingesetzt wird, kann China die Aktion weniger aggressiv aussehen lassen. Denn die Küstenwache, welche die Quarantäne durchsetzt, ist eine zivile Organisation vergleichbar mit der Polizei. Offiziell heisst es: «Wir setzen nur unsere Gesetze um.»
Die Schiffe von Chinas Küstenwache sind so gross und stark bewaffnet wie bei keiner anderen Küstenwache. Einige ihrer Einheiten sind grösser als die grössten Schiffe von Taiwans Kriegsmarine. Doch wenn Taiwan sich mit seiner Marine gegen die chinesischen Küstenwachschiffe wehrt, kann Peking es so aussehen lassen, als eskaliere Taipeh die Situation.
China kann die Quarantäne über wenige Tage oder auch mehrere Wochen aufrechterhalten. Sie kann einen oder mehrere Häfen Taiwans gleichzeitig betreffen. So steuert Peking den Druck auf Taiwan sehr genau.
Die Kontrollen führen zu Verzögerungen im Seehandel. Lieferzeiten verlängern sich, Kosten steigen. Häfen wie Kaohsiung drohen grosse Einbussen. Taiwans Wirtschaft leidet. Und damit auch die Bevölkerung.
Nach Abschluss der Quarantäne belässt China einen Teil seiner Küstenwachschiffe auf Patrouille rund um Taiwan. So kann Peking signalisieren, dass es dies als Normalzustand ansieht.
Die militärische Blockade
Eine Blockade zielt darauf ab, Taiwan zu lähmen. Die Insel wird von der Aussenwelt abgeschnitten, von Energie und anderen Materialien, welche die Wirtschaft und die 23 Millionen Einwohner Taiwans benötigen. Ihnen soll das Leben so schwer wie möglich gemacht werden.
Mit einer Blockade könnte China gezielt Taiwans Verletzlichkeit ausnutzen. Die Insel ist weit mehr vom Aussenhandel abhängig als andere grosse Volkswirtschaften.
Taiwan hat praktisch keine natürlichen Ressourcen. Über 95 Prozent der Energieträger werden importiert. Die Vorräte reichen nicht lange: zwei Monate bei Kohle und Flüssiggas, sechs Monate bei Rohöl. Über 80 Prozent des taiwanischen Stroms werden aus Gas und Kohle produziert.
Zwar werden erneuerbare Energien seit Jahren ausgebaut, doch sie decken erst etwa einen Zehntel des Energiebedarfs. Der letzte von einst sechs Atomreaktoren wird demnächst abgestellt. Nach der Katastrophe von Fukushima beschloss Taiwan den Atomausstieg.
Auch bei Lebensmitteln ist Taiwan stark von Importen abhängig: Rund 70 Prozent werden eingeführt. Eine rigoros umgesetzte Blockade entspricht der mittelalterlichen Strategie der Belagerung und des Aushungerns von Städten.
Die Mangellage wird dazu führen, dass es in den taiwanischen Medien und der Politik zu scharfen Auseinandersetzungen kommt, wie mit der Situation umzugehen ist. China wird versuchen, diese Diskussion mit Falschinformationen zu beeinflussen und der Bevölkerung einzuflössen, dass Widerstand zwecklos ist. Indem es Taiwan von Informationen von aussen abschneidet, kann China den Diskurs besser manipulieren.
Gibt Taiwan dem Druck nicht nach, so kann eine Blockade auch als erster Schritt zu einer Invasion gesehen werden: Die chinesischen Befehlshaber hoffen, Taiwan damit militärisch und wirtschaftlich zu schwächen und den Durchhaltewillen der Bevölkerung zu untergraben.
China zieht die Schlinge stetig zu
Peking kann die drei aufgezeigten Szenarien stufenweise einsetzen. Indem es langsam, aber sicher seine Präsenz um Taiwan verstärke, setze China auf eine Anakonda-Strategie, sagte der Chef der taiwanischen Marine, Admiral Tang Hua, vor kurzem in einem Interview mit dem Magazin «The Economist».
Taiwan versucht nach Aussage des Admirals, eine Konfrontation zu vermeiden. «Die Volksbefreiungsarmee will Taiwan zu Fehlern zwingen und sucht nach ‹Ausreden›, um eine Blockade auszulösen. Wir halten aber unsere Leute zurück, um nicht zu provozieren oder zu eskalieren.»
Mit welchem der drei geschilderten Szenarien China die Schlinge um Taiwan zuzieht, bleibt abzuwarten. Sie schliessen sich gegenseitig nicht aus. Denn mit den drei Szenarien lassen sich unterschiedliche Ziele verfolgen:
- Mit der Zermürbung kann China die taiwanische Regierung als machtlos vorführen und die lokalen Streitkräfte abnutzen. Dabei geht Peking wenig Risiko ein, dass es zu einem Krieg kommt. Es kann den Druck nach Belieben steuern und auch zurücknehmen.
- Eine polizeiliche Quarantäne eignet sich, um Taiwan zu bestrafen. Nach aussen kann Peking so tun, als sei Taiwan seine interne Angelegenheit. Allerdings wird diese Massnahme kaum zur angestrebten Vereinigung führen.
- Eine militärische Blockade verfolgt die Absicht, Taiwan in die Knie zu zwingen. Wenn Taiwan aber selbst nach längerer Blockade nicht nachgibt, steht Peking vor der schwierigen Entscheidung, doch zur Invasion schreiten zu müssen, um die Vereinigung herbeizuführen.
Klar ist: Ohne Hilfe von aussen wird Taiwan nicht lange durchhalten können. Um die Blockade zu brechen, braucht Taiwan Hilfe. Und diese Hilfe kann nur von den USA oder zumindest unter deren Führung kommen.
Ein Konflikt um Taiwan hat globale Auswirkungen
Klar ist auch: Ein Konflikt in der Taiwanstrasse hat globale Auswirkungen. Bei einer Quarantäne oder Blockade wären nicht nur Taiwans Importe betroffen, sondern auch die Exporte. Auf der Insel werden 90 Prozent der leistungsfähigsten Halbleiter hergestellt, die weltweit in Computer, Handys, Datenzentren, Autos oder Präzisionswaffen verbaut werden.
Zudem sind die Taiwanstrasse und in geringerem Masse auch die Gewässer entlang der Ostküste der Insel als Schifffahrtsstrassen für die globale Wirtschaft von enormer Bedeutung. Diese Gewässer könnten unbefahrbar werden, weil China sie für geschlossen erklärt. Oder Reedereien könnten sie meiden, da sie zu gefährlich sind oder weil die Versicherungsprämien unerschwinglich werden.
Eine grosse Zahl von Ländern wäre stark betroffen, weil ein beachtlicher Teil ihrer Importe oder Exporte durch die Taiwanstrasse führen. Dazu gehören:
Es steht viel auf dem Spiel.
Eine Geschichte von
Patrick Zoll: Text, Daten
Roland Shaw: Karten, Daten
Adina Renner: Projektleitung, Datenvisualisierungen
Inspiration
CSIS ChinaPower Project Teil 1, Teil 2 und Teil 3.
Quellen Karten
Luftraumverletzungen: Verteidigungsministerium Republik China (Taiwan), digitalisiert von Damien Symon, Geoint-Spezialist bei The Intel Lab.
Übungsgebiete und Ballonfahrten: Verteidigungsministerium Republik China (Taiwan), digitalisiert von NZZ.
Unterseekabel: TeleGeography.
Basiskarte: Maptiler (Relief); WorldPop (Bevölkerungsdichte); Hansen et. al. (Vegetation); Marine Regions (Anschlusszone); OSM und Natural Earth.








