Einmal im Jahr bietet die chinesische Politik einen kontrollierten Einblick hinter die Kulissen. Warum die «zwei Tagungen» so bedeutsam sind und was sie über die Prioritäten der Machthaber verraten: die wichtigsten Fragen und Antworten.
Einmal im Jahr wird Peking zum Hochsicherheitstrakt. Die Staatsmedien sind in Aufruhr. Alles schaut gebannt zur grossen Halle des Volkes im Zentrum der Hauptstadt, wo die «zwei Tagungen» stattfinden.
Es ist eine der seltenen Möglichkeiten für die Chinesen, die politischen Geschäfte der Kommunistischen Partei zu beobachten. Obwohl die Prozesse bis ins kleinste Detail orchestriert sind und die Entscheide im Verborgenen bereits gefallen sind, hat die Veranstaltung eine grosse Relevanz.
Denn in der Vergangenheit gab es immer wieder Überraschungen, zum Beispiel, als der Volkskongress 2018 die Amtszeitbeschränkung für den Partei- und Staatschef Xi Jinping abschaffte und Xi somit zum potenziellen Herrscher auf Lebenszeit kürte. Oder vergangenes Jahr, als der Ministerpräsident Li Qiang die traditionelle Pressekonferenz zum Ende des Volkskongresses absagte und so den Journalisten eine der letzten verbliebenen Chancen nahm, der Regierung direkt kritische Fragen zu stellen.
Die «zwei Tagungen» sind ein politisches Spektakel im Einparteistaat China. Hiermit will die Kommunistische Partei beweisen, dass «Volk» in «Volksrepublik China» seine Berechtigung hat. Zwei Gremien mit ganz unterschiedlichen Funktionen tagen.
- Am Dienstag, 4. März, tagt die politische Konsultativkonferenz. Das ist ein umständlicher Name für eine die Regierung beratende Versammlung mit über 2000 Delegierten, die Chinas Gesellschaft abbilden sollen. Hier sitzt der einflussreiche Mönch aus Tibet neben dem Schauspieler Jackie Chan. Chinas oberster Militärchef unter Xi Jinping, Zhang Youxia, ist ebenso präsent wie der weltberühmte Basketballspieler Yao Ming, der lange bei den Houston Rockets gespielt hat. Eine Mehrheit der Mitglieder sind zwar keine Parteimitglieder, aber pflegen enge Beziehungen zur Partei. Sie werden von der Partei ernannt.
- Am Mittwoch, 5. März, beginnt der Volkskongress, und er dauert zirka eine Woche. Er wird oft «Scheinparlament» genannt: Wer wilde Debatten und heikle politische Vorstösse wie in demokratischen Ländern erwartet, wird enttäuscht werden. Das Gremium hat fast 3000 Delegierte und ist somit das grösste «Parlament» der Welt. Offiziell gibt es einen indirekten Wahlprozess, aber tatsächlich werden die Delegierten von der Partei bestimmt oder genehmigt. Eine Mehrheit gehört der Partei an.
Der Volkskongress verabschiedet Gesetze, Verfassungsänderungen und den Staatshaushalt. Chinas Ministerpräsident Li Qiang eröffnet den Kongress am Mittwoch, indem er den Arbeitsbericht der Regierung verliest, ein Ziel setzt für das Wirtschaftswachstum im laufenden Jahr sowie das Staatsbudget vorstellt. Hier interessieren insbesondere die geplanten Militärausgaben. Der Volkskongress genehmigt den Arbeitsbericht am Ende der zirka einwöchigen Tagung. Dazwischen wird in Arbeitsgruppen diskutiert. Grössere Änderungen am Arbeitsbericht sind selten.
Die Mitglieder der politischen Konsultativkonferenz können Gesetzesvorschläge ausarbeiten und an die Regierung übermitteln. Es gab im vergangenen Jahr zum Beispiel den Vorstoss, auch alleinstehenden Frauen das Recht auf In-vitro-Befruchtung zuzugestehen. Diese Vorstösse haben eine steigende Chance, umgesetzt zu werden, wie eine Untersuchung des Politologen Felix Liebrecht zeigt.
Zum Grossteil sind die «zwei Tagungen» zeremoniell. Die wahre Macht liegt beim Politbüro der Partei und bei Xi Jinping. Die Gesetzesentwürfe, die im Volkskongress verabschiedet werden, sind bereits durch einen langen Vernehmlassungsprozess gegangen, wurden in unzähligen Parteisitzungen von der Provinzebene bis zur nationalen Ebene diskutiert und ausgearbeitet. Am Kongress stehen also die Gesetze bereits fest, deswegen sind die Abstimmungen meistens ein Abnicken mit keinen oder nur wenigen Gegenstimmen oder Enthaltungen.
Auch die politische Konsultativkonferenz hat Symbolcharakter. Gleichzeitig haben die Delegierten dort eine reale Chance, mit ihren Vorstössen politisch mitgestalten zu können. Deswegen sind die Plätze dort begehrt: als Zeichen des Ansehens und Einflusses im Land.
Trotzdem sind die «zwei Tagungen» bedeutsam. Die Vorstösse aus der Konsultativkonferenz sind eine Art Stimmungsbarometer des Landes, aus Wissenschaft, Wirtschaft, Frauenorganisationen. Beobachter des Volkskongresses analysieren, was zwischen den Zeilen gesagt wird, wo es Verschiebungen gibt in der Wortwahl oder im Ton im Vergleich zum Vorjahr oder wo der Prozess vom Protokoll abweicht. Das Gesamtbild gibt wichtige Hinweise darauf, wohin China im laufenden Jahr steuert.
China kämpft mit einer stagnierenden Wirtschaft und sinkenden Preisen. Es bestehen grosse Zweifel, ob China 2024 das proklamierte Wachstum von fünf Prozent tatsächlich erreicht hat. Doch Experten vom Asia Society Strategic Policy Institute sagen voraus, dass Chinas Regierung für 2025 wie in den vergangenen drei Jahren ein Wachstumsziel von fünf Prozent anstreben wird.
Der Arbeitsbericht der Regierung am Volkskongress bietet einen Einblick dahingehend, wie die Regierung gedenkt, dieses ambitionierte Ziel zu erreichen. Interessant wird sein, zu beobachten, zu welchem Ausmass der Verschuldung Chinas Regierung bereit ist, ob es weitere Stimuli für Unternehmen geben wird oder sozialpolitische Massnahmen, die den Konsum ankurbeln sollen.
Ob sich Chinas Wirtschaft erholt oder weiter in die Krise schlittert, hat Einfluss auf das globale Wirtschaftswachstum, die Lieferketten sowie ausländische Investoren in China.
Aus der aussenpolitischen Perspektive wird es spannend, zu schauen, ob es Signale an die amerikanische Regierung von Donald Trump geben wird angesichts des sich anbahnenden Handelskonflikts. Auch eine Verschärfung des Tones in der Taiwan-Frage in Ministerpräsident Li Qiangs Arbeitsbericht liesse aufhorchen.